„Gut, ihr habt mich überzeugt. Es bleibt mir als Fremde in dieser Gegend nichts anderes übrig, als euch zu vertrauen und auf eure Unterstützung zu hoffen. Ich werde mir im Gegenzug alle Mühe geben, euch gegen euren unheimlichen Feind zu helfen.“
Da nickte der junge Mann zufrieden und lächelte ihr zu.
„Ausgezeichnet, dies freut uns zu hören. Es liegt auch in unserem Interesse, deine Schwester aus den Händen des Gegenspielers zu befreien. Du hast die richtige Entscheidung getroffen und wirst sie nicht bereuen. Lass uns nun jedoch von hier fortgehen. Es ist schon ziemlich finster geworden und eben um diese Zeit erwachen ja die Kräfte unseres zwielichtigen Gegners. Folge uns in unser sicheres Hauptquartier und wir berichten dir morgen in aller Ausführlichkeit, was du für uns bewirken kannst.“
Als die kleine Gruppe den Müllcontainer verlassen hatte, um durch die leeren Winkel der Stadt zu schreiten, war die Luft um sie herum sehr kühl geworden und betäubten die Wangen von Cherryfly wie erfrischende Eiswürfel. Das Mädchen aber fror nicht und genoss stattdessen die vielen spannenden Eindrücke, welche nun zum ersten Mal auf sie einwirkten. Indem sie über die ehrfurchtgebietende Ernsthaftigkeit der fünf Männer staunte, welche in perfekter Eleganz wie ein Rudel umsichtiger Panther durch die Nacht huschten, ließ sie ihren Blick hie und da über ein dunkles Fenster schweifen und fragte sich, was sich dahinter verbarg. Kein Anflug von Leben schien hinter den heruntergekommenen Mauern zu erkennen zu sein. Bald hatten sie die engen Passagen überwunden und näherten sich ihrer letzten Ecke, um in eine verlassene Seitenstraße einzubiegen. Am Rande des schwach beleuchteten Bürgersteigs stand schon eine schmale Limousine für sie bereit. Die Scheiben des Wagens waren dunkel getönt und sein Lack glänzte unter dem Schein der Laternen wie der Panzer eines tiefschwarzen Käfers. Jemand im Inneren des Autos hatte beim Anblick der sich nähernden Gestalten den Motor gestartet und wartete nun, bis die sechs Personen herangetreten waren. Dann öffneten diese die Türen des brummenden Wagens und forderten Cherryfly dazu auf einzusteigen. Nachdem auch sie sich rasch in das Innere des ledern ausgekleideten Gefährts gehievt hatten, setzte sich dieses kurz darauf mit einem lautlosen Ruck in Bewegung. Das Mädchen hätte gern gewusst, wer ihr Chauffeur war, doch hinter dem undurchsichtigen Glas, welches den Bauch des Wagens von seiner Fahrerkabine abtrennte, schien nichts erkennbar zu sein. Zu ihrer Linken saß der sperrige Mann mit der tiefen Narbe, während zu ihrer Rechten Joseph Platz genommen hatte.
Zunächst herrschte eisernes Schweigen, dann durchbrach der junge Mann die Stille mit seiner warmen Stimme.
„Wenn du jetzt noch ein paar Fragen an uns hast, ist Gelegenheit, sie hier zu stellen. Die Fahrt sollte nicht allzu lange dauern, doch das, was wir auf der Straße nicht besprechen konnten, wollen wir dir in diesem Wagen gern erläutern. Wenn du möchtest, vermag dir natürlich auch die ‚Elster‘ unsere Antworten zu liefern.“
Ehe Cherryfly sich jedoch verwirrt über die erwähnte Person zeigen konnte, ließ der Mann zu ihrer Seite ein knurrendes Geräusch verlauten und murmelte:
„Damit meinte er mich. Wundere dich nicht über meinen Namen, denn er ist bloß eine seltsame Koseform, die sich unter meinen Mitarbeitern durchgesetzt hat. Die Bezeichnung unseres Feindes als ‚Bubblemaker‘ erscheint dabei ebenso erfunden. Vielleicht besitzt jenes Wesen der Dunkelheit, von dem die meisten Menschen auf der Welt keine Ahnung haben, weder festes Gesicht noch einen richtigen Namen, doch wir haben uns dafür entschieden, es zur Orientierung nach einem seiner wenigen greifbaren Merkmale zu benennen.“
Joseph nickte stumm und fuhr anschließend fort:
„Wir haben den Dämon, mit dem wir uns verfeindet haben, ‚Bubblemaker‘ genannt, weil er seine Anwesenheit in der Finsternis jeweils mit schillernden Seifenblasen verkündet.“
Das Mädchen öffnete erstaunt seinen Mund und versuchte sich vorzustellen, wie ein böser Geist sich an Symbolen von Entzücken und Kindlichkeit bediente, um seine Opfer zu täuschen. Dann fasste es sich wieder und wollte wissen:
„Und warum habt ihr euch mit ihm zerstritten?“
Der junge Mann neben ihr schüttelte seinen Kopf, um eine Falte seines dunklen Hemdes zu glätten.
„Das soll dir morgen unser Herr erzählen, wenn er dir höchstpersönlich gegenübertreten wird. Er ist wohl der einzige auf Erden, welcher das Wesen der Nacht schon einmal leibhaftig vor sich stehen gesehen hat. Daher wird er dir viel Wichtiges über unseren gemeinsamen Feind berichten können. Indem seine Tochter vor kurzem von dir und deiner Schwester geträumt hat, ist es ihr gelungen, eure Ankunft in dieser Stadt präzise vorauszusagen. Dabei erzählte sie uns, dass Honigbohne unserem Feind in die Hände geraten würde, während wir dich im Gegenzug erfolgreich bergen könnten. Es war uns möglich, ihre Prophezeiungen zu überprüfen, indem wir ihren Worten gefolgt sind und heute Abend über den Dächern eines Hochhauses den dämmernden Himmel beobachtet haben.“
Cherryflys Nachbar mit den kalten blauen Augen gab ein leises Brummen von sich und sprach:
„Vielleicht ist es dir bis jetzt nicht bewusst gewesen, doch dein Erscheinen auf dieser Welt hat für kurze Zeit ein sichtbares Zeichen über der Stadt hinterlassen, das für Kundige klar und deutlich zu beobachten war. Dasselbe galt auch für deine Schwester. Als ihr beiden nämlich hier angekommen seid, waren für wenige Minuten zwei eigenartige, dünne gelbe Lichtsäulen am Himmel zu erkennen gewesen. Sie standen laut dem Traum der Tochter unseres Oberhauptes jeweils genau über jenen Punkten, bei denen ihr zuerst erschienen seid. Das heißt, deine Schwester ist auf einem verlassenen Industriegebiet am Rande der Stadt etwa eine halbe Stunde vor dir aufgetaucht. Ein Teil von uns eilte sofort zu jener Stelle und hat versucht sie zu retten, doch keine Spur war mehr von ihr zu sehen. Als unsere Gruppe dann nur wenig später nach der zweiten Lichtsäule in die Richtung der westlichen Gebiete losgezogen ist, konnten wir dich vor dem Bubblemaker finden. Die Vorhersage der Tochter unseres Vorgesetzten hat sich somit gänzlich bewahrheitet.“
In diesem Moment machte der Fahrer vorne auf einmal einen abrupten Bremser und ein Ruck ging durch das ganze Auto, welcher die Tasche Josephs vor sich auf den Boden schleudern ließ. Eine kleine gläserne Phiole mit einem schimmernden Inhalt kam darauf zum Vorschein, der den Eindruck von flüssigem Gold erweckte und seltsam lebendig unter dem künstlichen Licht der gedämpften Autolampe waberte. Kreidebleich geworden, schnellte der junge Mann mit den grünen Augen vor, um den Gegenstand rasch wieder einzupacken. Er zitterte kaum merklich und erntete einen finsteren Blick von der totenstill gewordenen Elster. Unterdessen hatte der Wagen seine Fahrt wieder fortgesetzt und der Lenker beschleunigte seine Geschwindigkeit.
„Was um alles in der Welt war das?“
Joseph versuchte seinen grimmigen Kameraden zu beschwichtigen, indem er ihm mit wiedergewonnener Fassung entgegnete:
„Ein Tier, schätze ich, das unvorhergesehen über die Straße gelaufen ist. Natürlich können wir nicht wissen, ob es von unserem Feind verwirrt und dazu angestiftet worden ist. Aber wir befinden uns immer noch unbeschadet auf unserem Weg.“
Das Mädchen warf einen flüchtigen Blick auf die am Boden platzierte Tasche, welche nun wieder fest verschlossen ihr geheimnisvolles Fläschchen barg. Sie kam nicht umhin sich zu fragen, was seine merkwürdige goldene Flüssigkeit wohl zu bedeuten hatte. Die Tatsache jedenfalls, dass ihr Gegenüber so schockiert über deren Zutagetreten reagiert hatte, schien zu bestätigen, dass sie von hoher Wichtigkeit war. Danach wurde nichts mehr gesprochen und ein tiefes Schweigen hing über den Köpfen der betretenen Männer.
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