Michael Stuhr
DIE NACHT DER ENGELSTRÄNEN
10 Horrorstories
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Inhaltsverzeichnis
Titel Michael Stuhr DIE NACHT DER ENGELSTRÄNEN 10 Horrorstories Dieses ebook wurde erstellt bei
Widmung Widmung für Jan Hendrik *03.01.2013
P7
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für Jan Hendrik *03.01.2013
Die Stimme des Radiosprechers war sanft und einschmeichelnd. Er kündigte gerade die Abendsendung an, bei der es die ganze Nacht lang um Vollmond und Sternschnuppen gehen sollte:
„Man nennt ihn auch den Wolfsmond, den Blutmond, aber auch den Mond der Verliebten, den stillen Begleiter, der in tiefer Nacht die Wege zeigt, die zueinander führen.
Vielleicht haben Sie ja in einer Vollmondnacht etwas Besonderes erlebt. Etwas Romantisches oder etwas Unheimliches möglicherweise. Erzählen Sie uns Ihre Vollmondgeschichten. Rufen Sie uns an, schicken Sie uns eine Mail, oder besuchen Sie uns auf unserer facebook-Seite im Internet.
Bleiben Sie am Radio und schauen Sie mit uns zum Himmel, wo der volle Mond von den Tränen der Engel umschwirrt wird. Bei jeder Sternschnuppe haben Sie einen Wunsch frei, also halten Sie sich bereit für das Außergewöhnliche. Heute ist mal wieder eine von diesen besonderen Nächten, in denen alles passieren kann.“
„Was für ein Dünnschiss!“ Der Mann schaltete mit einer unwilligen Bewegung das Radio aus. „Warum heulst du schon wieder?“ Er gab der Frau auf dem Beifahrersitz einen Stoß in die Rippen. „Ich tu dir doch gar nichts. Entspann dich doch mal!“
„Bitte, warum lässt du uns nicht einfach raus?“
„Oh, ich will raus hier, ich will raus hier“, äffte der Mann die Frau nach. „Fällt dir überhaupt nichts Anderes mehr ein? Du gehst mir so was von auf die Eier!“
„Nicht mit Mami schimpfen“, kam es vom Rücksitz.
„Halt die Fresse!“ Der Kopf des Mannes flog herum. „Du hast überhaupt nichts zu melden. Klar?“ Der Wagen machte bei der unkontrollierten Bewegung einen Schlenker, und ein Taxi musste hupend ausweichen.
„Lass doch Inti in Ruhe. Er kann doch nichts dafür“, sagte die Frau schwach. Sie verfluchte sich dafür, dass sie nicht besser aufgepasst hatte.
Es war Annas Fehler gewesen. Sie hätte damit rechnen müssen! Als sie Inti vom Kindergarten abgeholt hatte, hatte die Betreuerin sie sogar gewarnt. „Er ist wieder da“, hatte sie so leise gesagt, dass Inti es nicht hören konnte, aber natürlich hatte der Kleine doch mitbekommen, dass etwas nicht stimmte.
Sofort war Annas Laune auf den Nullpunkt gesunken. – So langsam begann ihr Exfreund zu einer echten Plage zu werden: War sie mit Inti auf dem Spielplatz, setzte er sich neben sie auf die Bank, und beim Discounter schob er seinen Einkaufswagen neben ihren. Selbst am Bankautomaten hatte er ihr schon aufgelauert, und in den letzten Tagen war er immer wieder mal am Kindergarten aufgetaucht. Einmal hatte er Inti sogar abholen wollen, aber die Betreuerin hatte das verhindert. – Und jetzt saß er hier neben ihr im Wagen. Er hatte sie beim Einsteigen einfach weiter in das Auto hineingedrängt und den Fahrerplatz übernommen – und das alles nur, weil sie nicht richtig aufgepasst hatte. Weil sie es sich immer noch nicht hatte vorstellen können, dass ein Mensch so verrückt werden konnte.
„Inti! – Was für ein bescheuerter Name!“, brach es wieder aus Kevin heraus. Hasserfüllt sah er in den Rückspiegel. Der Kleine saß ruhig in seinem Kindersitz und starrte ihn mit großen, erschreckten Augen an. Seinen Teddy hatte er wie zum Schutz dicht an sich herangezogen. – Das würde ihm gleich auch nichts mehr helfen.
Kevin grinste. „Inti!“, presste er zwischen den Zähnen hervor. „Muss es denn gleich jeder wissen? Lass dir doch ein T-Shirt drucken. `Ich treib´s mit Indios´ wäre doch ein guter Text. – Was meinst du? oder vielleicht lieber: `Indianernutte´, das würde es doch noch besser treffen.“
„Bitte hör jetzt auf. Nicht vor dem Kind.“
„Der kleine Idiot begreift doch sowieso nichts! Und wenn auch: Warum soll er nicht wissen, dass seine Mutter eine verdammte Schlampe ist? – Halbindianer! Mischling! Wie der schon aussieht! Eines Tages wird er in den Spiegel sehen und das Kotzen kriegen; und dann wird er dich fragen, warum du das gemacht hast. Mir ist das jedenfalls völlig rätselhaft!“
Okay! Anna war als Au-Pair für ein Jahr nach Lima gegangen und mit einem Kind im Bauch zurückgekommen, aber das war nichts, worüber Kevin zu richten hatte. Ihn hatte sie erst sehr viel später kennengelernt. „Das hast du alles gewusst“, protestierte sie. „Dass du nicht der Erste warst, und dass es Inti gibt. Das hat dich damals nicht gestört.“
„Heute stört es mich aber!“, schnappte Kevin. „Du mit deinem spirituellen Kram, und dieses Blag, das stundenlang einfach nur stocksteif da sitzt. – Das ist doch nicht normal! Weißt du, was dein Problem ist? – Du hast mit diesem komischen Schamanen rumgevögelt und findest das auch noch in Ordnung. Du hast keinen Respekt vor dir selber, und du hast keinen Respekt vor mir – aber das wird sich ändern!“ Er zog den Wagen auf die rechte Spur.
„Wo willst du eigentlich hin?“, wollte Anna wissen.
Kevin holte tief Luft. „Wir müssen reden!“
„Kevin, das bringt doch nichts.“ Die Frau schüttelte leicht den Kopf. „Jedes Mal wenn wir geredet haben, ist es nur noch schlimmer geworden."
„Natürlich wird es schlimmer!“, schrie Kevin los. „Natürlich wird es schlimmer, wenn du dich gegen alles sperrst, was ich sage! Warum hörst du mir nicht einfach mal zu, Anna? Warum kannst du nicht sehen, dass ich dich liebe, und du mich auch? Liegt es an dem Blag da hinten, das dich immer an seinen Vater erinnert?“
„Lass Inti da raus!“
„Wie entschlossen du plötzlich klingst!“ Kevin lachte böse auf. „Willst wohl deine verdammte Brut beschützen, was? – Aber das werden wir schon noch rauskriegen, wie groß die Liebe ist.“
„Wie meinst du das?“
„Wenn du an mir nur halb so viel Interesse gezeigt hättest, wie an diesem Blag, hätte alles gut werden können, mit uns“, behauptete Kevin. „Ich bin gut im Bett! Ich kann eine Frau zum Wahnsinn bringen mit meinem Schwanz, aber noch nicht mal das konntest du erkennen. Nichts als `Bitte nicht!´ und `Aua-aua!´ und `Heul-heul´. – Echt zum Kotzen!“
„Jetzt red doch nicht so. Inti sitzt hinten“, erinnerte Anna ihn und schaute sich unsicher um.
„Der kleine Bastard kapiert doch sowieso nix“, meinte Kevin nach einem Blick in den Innenspiegel. „Der ist doch schon wieder völlig weggetreten!“
Anna sah, dass er vielleicht Recht hatte. Inti saß mit geschlossenen Augen in seinem Kindersitz und rührte sich um keinen Millimeter. Nur seine Lippen bewegten sich kaum merklich, als würde er still Worte formen. Anna kannte das schon. Das war seine Art, sich von der Welt loszuklinken, wie er es nannte. - Manchmal hatte er für einen Vierjährigen schon eine seltsame Art, sich auszudrücken. Zuerst hatte Anna befürchtet, dass ihr Sohn autistisch sein könne, aber das war es nicht. Er benutzte diesen Zustand nur als Schutzmechanismus, wenn er spürte, dass sich eine Krise anbahnte.
Anna musste vor sich selbst zugeben, dass ihr Sohn im letzten Jahr in einer einzigen Krise gelebt hatte. Kevin hatte ihn von Anfang an gehasst, das wusste sie jetzt. Er hatte Inti gehasst, so wie er alles hasste, was Anna etwas bedeutete. Es durfte nichts neben ihm geben: Keine Eltern und keinen Sohn, keine Freundin und keinen Freund, keine Arbeitskollegen und noch nicht einmal ein Tier.
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