Der Oger war vor langer Zeit aus der fernen Fremde aufgetaucht und schien dank seiner märchenhaften Rätselhaftigkeit und unerhörten Macht zu einer Art Legende geworden zu sein, über die man sich gerne die wildesten Gerüchte erzählte. Es gab viele falsche Informationen über ihn, welche teilweise sogar von seinen engsten Vertrauten verstreut worden waren, um die Aufmerksamkeit von dessen eigentlichen Identität abzulenken und somit zu verhindern, dass auch nur ein Tröpfchen der Wahrheit über seinen Ruhm jemals ans Licht gelangte. Man munkelte insgeheim, dass der Oger Finsteres zu verbergen hatte - und dass er durch unlautere Mittel zu seinem unbegreiflichen Reichtum gekommen sei. Immer waren die Leute neugierig auf ihn und oft genug mit großer Missgunst erfüllt, doch die meisten von ihnen konnten sich auch nicht gegen einen gewissen Respekt vor ihm erwehren und fürchteten sich zurecht vor ihm. Denn der Oger war eine außergewöhnliche Person, welche klug und weitsichtig die richtigen Leute um sich geschart hatte und aus genauer Berechnung die Öffentlichkeit mied. Sein Arm reichte weiter, als einer zu träumen wagte und sein erbittertster Feind war eine der mächtigsten Kreaturen dieser Welt.
Und in der vierunddreißigsten Etage also, dort, wo sich die geheime Herrschaft jener Stadt in unserer Geschichte konzentrierte, lag Cherrfly nun gegen sieben Uhr morgens in einem riesenhaften Himmelbett aus kunstvoll geschnitztem Ebenholz, eingebettet in ein Meer aus flauschigen Kissen und umhüllt von einer Decke aus weichem, dunkelrot schimmerndem Satin, die sie sich bis zum Kinn herangezogen hatte. Sie war wach und lauschte dem Sirren des kleinen elektronischen Weckers, welcher neben ihr auf dem Nachttisch lag. Die schweren Vorhänge waren noch zugezogen und ließen keine Ahnung auf den Grad der Helligkeit draußen zu. Das Mädchen, das bisher auf dem Rücken gelegen hatte, wandte sich auf die Seite und drückte seine Wangen auf das geschmeidige Kissen unter sich. Seine nackten Zehen gruben sich in die Falten des Bettzeugs zu seinen Füßen und es spürte, wie sein dünnes Blütenkleid, das es seit seiner Geburt im Arbeitszimmer seines Vaters getragen hatte, nach der Ankunft in der Menschenwelt dahingewelkt war. Auf der Stuhllehne vor dem eleganten Schminktisch zur Rechten lag in weiser Vorsehung jedoch schon ein neues Kleid bereit. So schloss Cherryfly ihre zart schimmernden Lider und dachte an die Ereignisse von gestern Abend nach - und wie sie in dieses Zimmer hier geführt worden war, wo man sie mit ihren Überlegungen allein gelassen hatte. Joseph hatte sie mit den knappen Worten verabschiedet, sich gut zu erholen und morgen um acht Uhr bereit für das wichtige Treffen mit seinem Vorgesetzten zu sein. Danach war die Tür von außen wieder durch die Elster verschlossen worden und das Mädchen hatte sich abgewandt, um zum Bett zu gehen. Lange war es aber nicht darauf liegen geblieben, zumal ihm vom nächstgelegenen Tisch her bald ein feiner Duft entgegenkam. Indem es wieder aufstand, um jenen Geruch zu untersuchen, fand es auf der Ablage neben der Tür schließlich ein hübsch drapiertes Bouquet mit grünem und weißem Gemüse auf einem Teller vor, welches an klitzekleine, niedliche Bäume erinnert hatte und ihm jetzt noch beim Gedanken daran ein verstohlenes Schmunzeln entlockte. Das Wesen aus der Tränenwelt hatte trotz seiner Appetitlosigkeit seine Finger nach den grünen Köpfchen der Gewächse ausgestreckt, um sie verwundert zu berühren. Diese schienen allerdings totgekocht und gaben kein Zeichen von Leben mehr von sich. Also hatte sich das Mädchen enttäuscht von ihnen abgewandt und ließ auch die kunstvoll drapierte Kräuter-Rindsroulade ungekostet auf der Platte hinter sich. Nach einigen vorsichtigen Schritten durch das Zimmer, welches ihr wie ein wundersames, verzaubertes Museum vorgekommen war, wanderte Cherryfly alsdann zum Bett, um sich darin zu verstecken. In dieser der Winterstarre einer Amphibie gleichkommenden Weise war sie still und regungslos bis zum nächsten Morgen verharrt, um den gedämpften Geräuschen unten in der Stadt zu lauschen. Nun verspürte das Mädchen nach seiner langen Regungslosigkeit ein unwiderstehliches Bedürfnis, sich endlich wieder etwas zu bewegen. Es richtete sich langsam auf und setzte seine baren Sohlen auf den Teppichboden vor sich, um den ganzen Körper ausgiebig vom langen Liegen durchzustrecken. Anschließend ging es zum Stuhl mit dem bereitgelegten Kleid, streifte sich die bei jedem Schritt raschelnden und ausgetrockneten Blütenblätter vom Leib und zog sich dann den neuen Stoff über, welcher ihm erstaunlicherweise wie angegossen passte und sich eng an seine weiche Haut anschmiegte. Indem Cherryfly ihre Kette mit dem geheimen Briefchen vorsichtig unter dem Stoff über ihrem Herzen versteckte, warf sie einen Blick in den Schminkspiegel auf dem Tisch vor sich. Ihr neues Kleid besaß lange Ärmel aus cremefarbener, durchsichtiger Spitze und war mit so aufwändigen und delikaten Verzierungen aus feinstem Gold bestickt, dass man fast glauben mochte, jene Ornamente waren dort von selbst als kunstvolle kleine Pflanzen gewachsen und besaßen das Leben von schlummernden, zusammengerollten Farnknospen in sich. Vom Bauchnabel bis zum Hals schmückten sie den Oberkörper des Mädchens und machten bei einer dezenten vergoldeten Metallschleife Halt, die vorne an der Taille angebracht war. Der untere Rest der kostbaren Robe betonte die schlanken Hüften und bestand aus zarter, fließender Seide, welche bis zum Boden reichte. Wieder war Cherryfly überwältigt von der Pracht, die ihr in diesem Gebäude entgegenschlug, und sie griff rasch nach den beiden entzückenden Schuhen neben dem Tisch, um sie sich anzuziehen. Dann überprüfte sie kurz die Zeit auf dem Wecker und ging in ihrem Zimmer hin und her. Es verblieb noch eine Dreiviertelstunde bis zum großen Treffen, das in ihr nun eine kribbelnde Aufregung hervorrief. Plötzlich fiel dem Mädchen jedoch eine kleine Bibliothek in der Ecke des Raumes auf. Es wechselte seinen Kurs und eilte anschließend mit wehender Robe zum Gestell hinüber. Indem es seinen Blick über die unzähligen Buchrücken schweifen ließ, hatte es die Schriftzeichen auf ihnen bald entziffert und las ein Wort, welches sich auf einem Band ganz oben im Regal befand.
Cherryfly wusste zwar nicht, was jener Begriff mit dem Namen „Märchen“ bedeutete, doch ihr Sinn für das fremde Buch war schon geweckt. Sich auf die Fußspitzen stellend, versuchte sie mit den Fingern an den Rand des obersten Brettes zu gelangen, um den hübschen Band herunterzuholen. Sie war jedoch nicht groß genug und zitterte schon unter dem eigenen Körpergewicht, welches nun mit seiner ganzen Konzentration auf ihren Zehen lastete. Da kam dem Mädchen auf einmal eine Idee und es versammelte all seine Aufmerksamkeit auf die kleinen, in duftendes Leder gepressten Buchstaben über sich. Indem es diese mit seinem Geist und leuchtenden Augen fest umgriffen hielt, stellte sich das Wesen mit den außergewöhnlichen Kräften vor, wie sich das fokussierte Buch anhand seines Titelwortes ohne größere Mühe von seinem Platz heben liess, um mit taumelndem Rücken herunter zu schweben. Cherryfly wusste noch nichts von der physikalischen Schwierigkeit jenes Unterfangens in der gewöhnlichen Menschenwelt und war fest davon überzeugt, dass ihr Wille Berge versetzen konnte -; und vielleicht gerade wegen dieser selbstsicheren Unvoreingenommenheit gelang es ihr schließlich, ihren arglosen Wunsch in die Realität umzusetzen. So als ob ein unsichtbarer Arm seine Hand ausgestreckt hätte, um das unerreichbare Objekt für sie zu ergreifen, zitterte der Märchenband erst sachte und löste sich dann um einen Zentimeter vom Boden des Regals, wo er für wenige Sekunden regungslos in der Luft schweben blieb. Dann hörte das Mädchen, wie es an die Tür am anderen Ende des Raumes klopfte und seine ganze Kraft verpuffte mit der Zerstreuung einer zur Dichte von Damaszenerstahl versammelten Aufmerksamkeit. Vom Geräusch abgelenkt, wandte es seinen Kopf in die Richtung des Zimmereinganges und das eben noch schwebende Buch fiel mit einem dumpfen Schlag wieder zurück auf seinen Platz. Kurz darauf öffnete sich die Tür und Joseph trat in den Raum ein.
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