ILSE TIELSCH
ROMAN
Für RUDOLF, unsere Kinder STEFAN und CORNELIA und unseren Enkel BERNHARD
Wozu erinnerst du dich? Leb jetzt! Leb jetzt! Aber ich erinnere mich doch nur, um jetzt zu leben .
ELIAS CANETTI
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Nachts, wenn es dunkel ist, klingen die Stimmen fremd, auch jene, die es nicht sein dürften.
Judith ist tot, sagte die Stimme.
Die Hand hielt den Telefonhörer umklammert, die Bakelitmuschel lag kalt am Ohr. Es war kein Licht im Zimmer, nur der schwache Schein der Straßenbeleuchtung hing in den Vorhängen, und vom Herbstwind bewegte Baumzweige warfen zitternde Schatten. Die Stimme sprach in abgerissenen Sätzen, sie berichtete und versuchte zu erklären, was sich nicht erklären ließ, sprach Vermutungen aus, die, später von anderen ergänzt, dennoch Vermutungen bleiben würden. Tote wehren sich nicht, sie stellen nicht richtig, sie beantworten keine Fragen. Tote verteidigen sich nicht, beschuldigen niemanden, und sie weinen nicht mehr. Tote sind IN EINER ANDEREN WELT, aber Judith war plötzlich in meinem Zimmer, sie löste sich aus dem Schatten und nahm Farben an, ihre helle Haut, ihre graublauen Augen, ihr dunkles Haar, lockig abstehend vom Kinderkopf, lang auf Schultern und Rücken fallend, wie sie es als Fünfzehnjährige getragen hat.
Während die fremd gewordene Stimme sprach, erschienen Bilder.
Judith, die geschickteste Ballspielerin auf dem Schulhof, BALL ÜBER DIE SCHNUR, Judith im knappen Badeanzug auf dem Sprungbrett des neuen Schwimmbades in der Stadt, in der wir das Gymnasium besuchten, ein braun gebrannter Mädchenkörper, der viele Blicke auf sich zog, die beste Schwimmerin unseres Alters, Klassenbeste in Mathematik und Latein. Judith, über ihre Geige gebeugt im Schulorchester, schön an ihrem fünfzehnten Geburtstag im neuen, blau-weiß gemusterten Kleid. Judith, die überall Mittelpunkt war, wohin sie kam, auch später in Wien, als sie wieder unter uns lebte und wir ausgingen und uns mit Freunden trafen. Dann kein Bild mehr, nur einmal ein Zeitungsfoto, von dem wir nicht mit Sicherheit sagen können, ob es sie wirklich darstellt. Erst später jene Schwarzweißfotografie, auf der sie als Braut zu sehen ist, schüchtern lächelnd und fremd, an die Schulter eines jungen Mannes gelehnt, dessen Blick entschlossen auf etwas gerichtet ist, das wahrscheinlich ZUKUNFT bedeutet hat.
Das Begräbnis ist Mittwoch, sagte Christians fremd klingende Stimme, hoffentlich wird es dir möglich sein, zu kommen.
Die Bilder verschwammen im Dunkel, ich sah nur noch jenes eine, das ich von der Fotografie her kannte, die ich seither oft betrachtet hatte. In Judiths Gesicht floß mit einemmal vieles von dem zusammen, was wir damals dachten und waren, es stand symbolhaft für unsere jungen Jahre.
Das Wort JUGEND zwang sich mir auf, eigentlich war es mehr ein Gefühl als ein Wort, eine Art sanfter Schmerz.
Natürlich werde ich kommen, sagte ich.
Wir nehmen, wenn es uns möglich ist, an der Beerdigung teil, wenn jemand aus unserer Gegend gestorben ist, auch wenn wir nicht mit ihm verwandt oder näher befreundet gewesen sind. Wir drücken den Angehörigen die Hand, sagen ihnen teilnehmende Worte und nennen unsere Namen, die ja auch die Namen der Eltern und der Großeltern gewesen sind, damit sie die Stelle in ihrer Erinnerung finden, in die sie uns einbringen können. Die Geistlichen flechten in ihre Ansprachen Sätze über den Verlust der Heimat und über das schwere Schicksal des Verstorbenen ein, vergessen nicht, darauf hinzuweisen, daß er hier, wo er nun schon seit so vielen Jahren lebte, eine zweite Heimat gefunden hatte, ehe sie auf das verheißene Wiedersehen in der ewigen Heimat hinweisen. Wir gehen dann mit im Zug der Trauernden, werfen Erde ins offene Grab, es kommt vor, daß einer der Alten ein winziges Säckchen aus der Tasche zieht und es über dem Sarg entleert, von einer Reise mitgebrachte Erde aus Böhmen, aus Mähren, aus dem Adler-, dem Riesen-, dem Altvatergebirge, Erde aus dem Schönhengstgau, aus dem Egerland, aus dem südmährischen Hügelland. Muß der Verstorbene schon in fremder Erde ruhen, dann soll doch ein Stäubchen Heimaterde um ihn sein. Es kommt auch vor, daß einer der Alten nicht den ganzen Inhalt eines solchen Säckchens auf den Sarg streut, sondern ihm nur einen Teil der Erde entnimmt, das Säckchen wieder verschließt und in die Tasche zurücksteckt. Den verbliebenen Rest bewahrt er für seine eigene Beerdigung auf. Die Erde der neuen Heimat bleibt fremd für die Toten, die darin begraben werden, fremder als jene, in der schon die Eltern und Großeltern ruhen, vielleicht schon deren Vorfahren, zurück über mehrere hundert Jahre.
Ein Stück Heimat verläßt uns mit jedem, der stirbt, dies ist einer der Gründe dafür, daß wir manchmal viele Kilometer weit fahren, um einen Verwandten auf seinem letzten Weg zu begleiten. Daß wir einander bei solchen Anlässen wiedersehen, ist ein weiterer Grund dafür. Wir sitzen dann beisammen und sprechen von lange vergangenen Zeiten, wir berichten einander von unserem Leben, sprechen auch von Leuten aus unserer Gegend, die nicht gekommen sind oder nicht kommen konnten, von denen wir jedoch wissen, wo sie leben und wie es ihnen ergangen ist. Kommt bei einer solchen Gelegenheit jemand, den wir lange nicht gesehen haben, dahin, wo wir selbst jetzt leben, dann laden wir ihn ein, bei uns zu übernachten, wir nehmen ihn auf, stellen ihm unsere Kinder vor, wir kramen in Schubladen und Schränken nach alten Fotografien, nach Bildern von Schulschlußfeiern, Ausflügen, Sportveranstaltungen oder Sommerfesten, auf denen wir selbst als Kinder oder junge Leute zu sehen sind, meist sind es kleine, oft schon abgegriffene Schwarzweißfotografien, die wir durch Zufall gerettet haben oder die uns von anderen, die sie besaßen, geschenkt worden sind. Manchmal finden sich Gruppenaufnahmen in Fotoalben oder unter den Papieren verstorbener Verwandter, dann nehmen wir sie an uns, notieren nach und nach die Namen der Abgebildeten auf der Rückseite, weil wir die Lücken der Erinnerung erst im Lauf der Jahre und mit Hilfe anderer zu füllen vermögen. Wir hüten diese alten Fotografien, auch jene, auf denen nicht Menschen, sondern Landschaften abgebildet sind, die uns vertraut waren, Häuser, in denen wir gewohnt, Dörfer und Städte, in denen wir als Kinder gelebt haben. Wir lassen Reproduktionen anfertigen und tauschen sie untereinander aus. Der Prozeß der Veränderung ist uns bewußt, der dort, wo wir herkommen, wie überall abgelaufen ist, in solchen Stunden jedoch überspringen wir die Jahrzehnte, als wären sie nicht gewesen. Dies ist unser Dorf, unsere Stadt, unsere Kirche, unsere Schule, auch wenn es das Dorf, die Kirche, die Schule schon längst nicht mehr gibt, dies ist der Spielplatz, dies ist das Haustor, durch das wir täglich eingetreten sind, dies ist unser Weinberg, unsere Scheune, unser Weizenfeld. Wir kramen in Erinnerungen, wir sitzen bis spät nachts beisammen und erzählen einander Geschichten, und weil der Verstorbene ja aus derselben Gegend stammte, wie wir selbst, ist er bei solchen Gesprächen dabei.
Auch bei anderen Anlässen, bei denen wir einander begegnen, zum Beispiel bei Heimattreffen, werden Geschichten erzählt, die wir mitnehmen und die uns im Gedächtnis bleiben, wie zum Beispiel jene des alten Schmieds von Mühlfraun.
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