Die Mauer ragte schwarz gegen den Nachthimmel auf, nicht mehr als ein Schatten, dessen Umrisse die Sterne auslöschten, die wie kleine blankpalierte Augen am Firmament standen; ein finsteres Loch, das jemand in den Himmel gestanzt hatte. Sie war verbrannt.
Die Nacht roch nach Hitze. Nach warnem Stein und glühender Erde und anderen, unangenehmeren Dingen, die das Kind zu erkennen sich weigerte.
Manchmal trieb der Wind fette schwarze Qualmwolken über die zerbröckelte Krone der Mauer. Wenn sie an den Sternen vorbeizogen, dann war es für das Kind, als würden sie ihr zublinzeln, wie kleine, sehr weit entfernte, und sehr teilnahmslose Augen. Früher einmal waren diese Augen seine Freunde gewesen. Früher, als die Nacht noch sein Freund gewesen war. Jetzt hatte es keine Freunde mehr. Seine Freunde – aber auch seine Feinde – waren tot, gestorben in der flammenden Hölle, die die Mauer geschwärzt hatte, zusammen mit der Stadt, der sie ein Versprechen auf Schutz gab, das sie nicht eingelöst hatte. Das Kind hatte Angst.
Zum ersten Mal in seinem Leben hatte es wirkliche Angst. Nicht die Angst vor der Dunkelheit, nicht die Angst vor den Dingen, die in den Geschichten der Erwachsenen erstanden und hinterher, wenn die Worte längst verklungen waren, düsteres Leben gewannen und manchmal in seine Träume gekrochen waren, nicht die Angst vor einem Tier, das beißen und kratzen konnte, nicht die gestaltlose Angst, die nur Kinder kennen. Es hatte Angst vor etwas, wofür in seinem bisher kaum zehn Jahre währenden Leben nicht einmal Raum gewesen war, vor einem Wort, das sie gekannt, das aber keine wirkliche Bedeutung gehabt hatte: vor dem Tod.
Das Mädchen fror, während es so dastand und die brennende Stadt ansah, obwohl es noch immer heiß war. Seit es aus den Felsen gekrochen war, zwischen die es sich gepreßt hatte, zitternd, zuerst schreiend vor Angst und später lautlos in sich hineinschluchzend, mußten Stunden vergangen sein. Der Abend war jung gewesen, als es die Stadt verlassen hatte, und als sich das erste Grau der Dämmerung am Horizont zeigte begann, hatte es sich auf den Rückweg gemacht, der nicht sehr weit war.
Der Tod war schneller gewesen.
Die Stadt hatte nicht sehr lange gebrannt, denn das Feuer war heiß gewesen, so ungeheuer heiß, daß sie seinen glühenden Atem selbst auf der anderen Seite der gigantischen Mauer gespürt hatte, ja, selbst noch zwischen den zehnfach mannshohen Findlingen, in deren Schutz es geflüchtet war, blind, halb wahnsinnig vor Angst und Verwirrung, wie ein Tier, das ganz instinktiv in ein Erdloch kriecht, wenn es die Gefahr spürt. Trotzdem hatte sie die grausame Hitze gefühlt, die vom Himmel gefallen war. Alles, was in der Stadt brennen konnte, mußte in den ersten Minuten zu Asche zerfallen sein.
Seitdem stand es hier, ein dunkelhaariges Mädchen von nicht einmal zehn Jahren, das noch nicht ganz begriffen hatte, daß es über Nacht zur Waise geworden war; mehr noch, zu einem Menschen, der vollkommen allein war, denn all seine Freunde, jedermann, den es gekannt oder gemocht oder auch gefürchtet hatte, war tot.
Es gab keine Überlebenden außer dem Mädchen. Der Tod hatte am einzigen Abend des Jahres zugeschlagen, an dem alle Bewohner der Stadt in ihren Häusern waren.
Nein – es gab keine Überlebenden. Es gab nur noch dieses Mädchen. Es war schlank, aber gut genährt, in einem Kleid, das nur eines von vielen kostbaren Kleidungsstücken gewesen war, die in seiner Kammer gehangen hatten; denn die Stadt, die vor ihm zu Asche zerfiel, war reich gewesen.
Es wußte nicht, wie lange es schon so dastand und die geschwärzte Stadtmauer angeblickt hatte, als es die Schritte hörte.
Zuerst erstarrte es vor Schrecken; aber nur für einen Moment. Dann fuhr es herum, stieß einen kleinen, erleichterten Freudenschrei aus und lief den Hang hinunter auf die Gestalt zu, die aus der Nacht getreten war.
Aber es blieb schon bald wieder stehen, denn als es näher kam, sah es, daß es eine Fremde war.
Die Frau gehörte nicht zur Stadt. Sie war keine Überlebende wie es selbst. Sie war niemand, den das Mädchen jemals zuvor gesehen hatte. Auch ihre Kleidung war sonderbar – schwarzes, im farbenfressenden Dunkel der Nacht matt glänzendes Leder, das sich wie eine zweite, sehr eng anliegende Haut an ihren Körper schmiegte. Sie war sehr groß, und, soweit das Mädchen dies erkennen konnte, sehr schön, und ihre sonderbare Kleidung ließ erkennen, daß sie schlank, aber von jener drahtigen Sportlichkeit war, die große Kraft und noch größere Gewandtheit verriet. Das Mädchen konnte nicht sagen, wie alt sie war. Sie mochte dreißig sein, aber genausogut auch fünfzig oder mehr, und es machte auch keinen Unterschied; denn für das Mädchen, das mit seinen zehn Sommern noch nicht gelernt hatte, mit Lebensjahren zu rechnen und krämerisch damit zu geizen, gab es ohnehin nur drei Altersgruppen, die von Belang waren: seine eigene, die der Erwachsenen, und die der Alten. Alt war die Frau nicht.
Sehr lange standen sich die beiden gegenüber, das Mädchen starr vor Schrecken und hin und her gerissen zwischen der Angst und dem Impuls, einfach davonzurennen und sich in den Felsen zu verkriechen, die ihm schon einmal Schutz gewährt hatten, und dem immer stärker werdenden Wunsch, das zu tun, was Kinder in einer Situation wie dieser wohl tun würden – zu dieser Fremden hinüberzulaufen und sich an ihre Brust zu werfen, sich einfach fallen zu lassen in dem sicheren Bewußtsein, in der Nähe einer Erwachsenen zu sein und damit unverwundbar. In Sicherheit.
Aber die Menschen in der verbrannten Stadt waren auch Erwachsene gewesen. Und sie waren tot. Zusammen mit ihren Kindern, die sich im letzten Moment noch an die Rocksäume ihrer Mütter geklammert haben mochten. Und die Frau war eine Fremde.
Nach einer Ewigkeit brach die Fremde das Schweigen. Sie trat auf das Mädchen zu – nur einen Schritt, um es nicht zu erschrecken – ließ sich in die Hocke sinken und streckte die Hand aus. Das Mädchen blickte diese Hand an – sie steckte in einem schwarzen, hauteng anliegenden Handschuh – und sah dann ins Gesicht der Fremden. Es rührte sich nicht.
»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, Kind«, sagte die Frau. »Ich tue dir nichts.«
Das Mädchen antwortete noch immer nicht, aber es lief auch nicht davon, als die Fremde die Hand ein wenig weiter ausstreckte und es am Arm ergriff. Das Leder auf ihrer Haut war kalt und glatt und fühlte sich sehr unangenehm an. Wie Schlangenhaut.
»Das war deine Stadt, nicht wahr?« sagte die Fremde. Das Mädchen nickte.
»Bist du... die einzige Überlebende?«
Wieder nickte das Mädchen. Es spürte, daß die Frau eine Antwort von ihm erwartete, aber es konnte nicht sprechen. Vielleicht würde es nie wieder sprechen können.
»Und jetzt bist du traurig«, sagte die Fremde. Diesmal war es keine Frage, sondern eine Feststellung, leise und sachlich, und nur mit einer ganz sachten Spur von Mitleid. »Du bist traurig und hast Angst und bist verzweifelt und zornig, und du würdest am liebsten ein Schwert nehmen und dich auf die Suche nach denen machen, die für das alles verantwortlich sind. Aber das wird nicht gehen. Du bist ein Kind.«
Sie stand auf, als hätte sie damit alles gesagt, blickte einen Moment mit starrem Gesichtsausdruck zu der verkohlten Stadt hinauf und setzte sich dann neben dem Mädchen ins Gras.
»Setz dich, Kind«, sagte sie.
Das Mädchen gehorchte. Was sollte es anders tun? Es konnte nicht weglaufen, denn es gab nichts mehr, wohin es laufen konnte. Es hatte niemanden mehr. Vielleicht gehörte es jetzt dieser Frau, wie etwas, das sie am Wegesrand gefunden hatte. Der Gedanke irritierte das Mädchen, aber er erschreckte es nicht sonderlich. Es war gut, jemandem zu gehören.
»Willst du mir nicht deinen Namen verraten, Kleines?« fragte die Frau.
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