Das Mädchen mit dem Namen Kirschfliege nickte und lauschte aufmerksam der nachfolgenden Rede des Wächters.
„Aber keine Sorge, ich habe dich sehr viel stärker und klüger gemacht als deine große Schwester, deren Körper nach ihrem Übertritt ja zerfallen sein muss - und du wirst dich bestimmt gut in der Menschenwelt zurechtfinden, um dich bald an ihre Gepflogenheiten zu gewöhnen. Denke daran, dass die Wesen in jener Welt ganz anders sind als wir und uns auch gefährlich werden können. Sie hegen ein unstillbares Verlangen nach dem Leben, das für sie äußerst kurz und so zerbrechlich ist, wie eine hauchdünne Kugel aus durchsichtigem Glas. Auch dein Körper wird in ihrer Welt nicht ewig Bestand haben und bis zum nächsten Vollmond, der schon sehr bald sein wird, wieder verschwunden sein. Bis dahin musst du deine Schwester unbedingt gefunden haben. Nutze deine Kräfte gut und passe dich an die fremde Welt an, damit niemand vorzeitig von deiner großen Macht erfährt.“
Und als der Mann geendet hatte, klatschte er in seine Hände und ein hell leuchtendes Portal tat sich inmitten des Zimmers auf, das die rechteckige Form einer Tür besaß und dem Mädchen als privates Tor zur Menschenwelt dienen sollte. Dann holte er ein kleines rotes Briefchen mit einer goldenen Schnur aus seinem Anzug hervor und reichte es seiner Tochter mit den folgenden Worten:
„Hier; dies ist unendlich kostbar und wird dir dabei helfen, dich und Honigbohne wieder sicher zu mir nach Hause zurückzubringen. Sobald es Vollmond ist, musst du den weißen Sand als Kreis auf dem Boden verstreuen und ein Übergang in das Tränenreich wird sich dir öffnen, welcher nur kurz Bestand haben wird.“
Kirschfliege nickte und hing sich das Briefchen dankbar um den Hals, um es unter ihrem Kleid zu verstecken - dann ging sie zum Tor in der Mitte des Raumes. Mit einem unsicheren Blick zurück stand sie nun vor der Schwelle ins Unbekannte und erlaubte sich noch eine allerletzte Frage:
„Und werden wir irgendwie miteinander sprechen können, wenn ich erst einmal drüben bin - oder muss ich mich dann vollkommen alleine durchschlagen?“
Der Mann mit den vier spinnenhaften Armen seufzte betrübt und antwortete ihr:
„Es tut mir sehr leid, aber sobald du auf der anderen Seite bist, kann ich dich nur noch schwerlich kontaktieren. Ich habe zwar Zugang zur Menschenwelt über die vielen Tränen in meinem Teich, doch bieten diese mir schlussendlich einen sehr beschränkten Einblick in die Geschehnisse jenseits unseres Reiches. Ich kann nicht direkt auf sie einwirken und bin hier gefesselt, da ich mich auch weiterhin um meine Arbeit kümmern muss.“
Da erwiderte das Mädchen mit einem ernsten Ausdruck in ihren großen bernsteinfarbenen Augen:
„Das macht nichts, Ihr könnt auf mich vertrauen. Ich werde meine Aufgabe auch allein erfüllen können und noch vor Vollmond mit meiner Schwester wohlbehütet zu Euch zurückgekehrt sein.“
Dann drehte sie sich um, tat unerschrocken einen Schritt über die strahlende Schwelle zur anderen Welt und verschwand schließlich ganz im gleißenden Licht des leuchtenden Tores. Kurz darauf brach das sonderbare Portal ebenso abrupt, wie es erschienen war, wieder in sich zusammen und war fort. Der Wächter verblieb stumm in seinem Zimmer und ließ sich die letzten Worte seiner Tochter durch den Kopf gehen. Er dachte bei sich, wie tapfer sie doch war und hoffte inständig, nicht auch noch sie an die feindselige Fremde zu verlieren. Schlussendlich aber blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten und zu hoffen, dass sein großes Opfer nicht umsonst gewesen sein würde.
Die Sonne über der Stadt war schon fast untergegangen und machte allmählich einem kühlen Zwielicht Platz, das nun lautlos und ebenso geschickt wie ein gutgeschulter Dieb alle Ecken und Winkel der engen Gassen auszufüllen begann. In einem großen Müllcontainer etwas Abseits inmitten der heruntergekommenen Gegend, in der sich unsere Geschichte in der Menschenwelt fortsetzten soll, lag ein Mädchen und hatte seine Augen fest geschlossen, um den Eindruck einer schlafenden Puppe zu erwecken. Es besaß zarte elfenbeinfarbene Haut und seidig glänzende Haare; sein Schopf, der ihm üppig und glatt über beide Schultern fiel, schimmerte unter dem Licht der Laternen wie pures Gold. Noch krabbelten einige kleine Fliegen über das zarte Gesicht des unheimlich schönen Wesens, um jenen eigenartigen Geruch zu erkunden, der von der fremden Kreatur ausging. Der Gestank von faulendem Fisch und sich zersetzenden Obstschalen vermischte sich mit dem Duft eines weißen Blütenkleides und bildete ein verwirrendes Parfum. Keine Menschenseele war zu jener Zeit jedoch auf den Straßen zu sehen. Die Bewohner der backsteinumfassten Häuser hatten sich allesamt in ihre warmen Zimmer zurückgezogen und niemandem von auswärts schien es in den Sinn gekommen zu sein, sich für einen Spaziergang in die Abgründe jener schummrigen Gegend zu wagen. Stattdessen kündigte nun der Schatten einer vorbeihuschenden Katze das Erscheinen einer kleinen Gruppe an. Dicht in ihre schwarzen Mäntel gehüllt, bewegten sich die Gestalten mit zügigen Schritten durch die leeren Gassen. Der Mann an ihrer Spitze war im Dunkeln bloß schemenhaft zu erkennen, doch trug er eine große Tasche bei sich, die er mit seinen Handschuhen fest umgriffen hielt. Die Kälte hatte sich in die Nischen des dämmernden Viertels geschlichen und ließ die fünf Personen ihren Gang beschleunigen. Als sie sich schließlich der Mülltonne mit dem Mädchen zu nähern begannen, drosselten sie ihre Geschwindigkeit, um sich fragend anzuschauen. Dann trat der Kräftigste unter ihnen, dessen Gesicht eine tiefe Narbe zierte, an den Rand der schimmelnden Mülltonne und vertrieb die stäubenden Fliegen und den üblen Gestank vor sich. Er kniff die Augen zusammen und schnitt eine grimmige Miene, um nach dem Handgelenk des schlafenden Geschöpfs zu greifen. Als der muskelbepackte, furchteinflößende Mann die pochende Wärme unter der dünnen Haut der Fremden gewahrte, ließ er ihren Arm rasch wieder los und kehrte zu den anderen zurück.
„Sie lebt und scheint bei bester Gesundheit zu sein. Dennoch war es höchste Zeit, dass wir sie zwischen diesen armseligen Mauern gefunden haben. Lasst sie uns von hier fortschaffen, ehe uns jemand findet und wir in Erklärungsnot geraten.“
Seine Kameraden stimmten ihm zu und der Mann streckte schon seine Hand nach dem regungslosen Körper des Mädchens aus, als dieses just in jenem Moment seine Lider aufschlug und in den grauen Himmel spähte. Sich langsam aufrichtend, weiteten sich seine bernsteinfarbenen Augen und beim Anblick der Gruppe von fremden Erscheinungen, welche sich allesamt zu Eis erstarrt vor dem Container versammelt hatten, grub das Wesen seine Finger angespannt in die Essenreste, um ein Stück zurückzuweichen. Es wollte etwas sagen, doch kein Wort kam aus seinem Mund. Unterdessen bahnte sich ein junger Mann seinen Weg durch die schweigende Schar, schob die kräftige Gestalt neben sich behutsam beiseite und näherte sich vertrauensvoll dem unbekannten Geschöpf. Indem er vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzte, sprach er mit sanfter Stimme:
„Mein Name ist Joseph. Keine Angst, wir werden dir nichts tun. Wir glauben ja zu wissen, wer du bist und sind gekommen, um dich in Sicherheit zu bringen. Gibt es denn etwas, an das du dich erinnern kannst?“
Da begann sein Gegenüber nachzudenken, um die Ereignisse vor seinem Erwachen zu untersuchen -; im Kopf des stummen Mädchens aber schien es, als sei ihr das Gedächtnis als ganzes Zimmer von einem Sturm leergefegt und anschließend gegen ihren Willen ausgeplündert worden, um sich nun dunkel und verlassen in tiefes Schweigen zu hüllen. Nicht einmal mehr ihren Namen wusste sie, den sie einmal mit großer Sicherheit gekannt haben musste. Als das Wesen folglich nichts erwiderte und stattdessen bloß traurig in das Gesicht des Unbekannten blickte, reichte dieser ihm seine Hand und bedeutete ihm freundlich, vom Abfallberg hinunterzusteigen.
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