So nahte jener schicksalshafte Morgen, an dem Honeybean zum allerletzten Mal von den Erinnerungen des verbotenen Teichs kosten sollte. Wie jeden Tag schaute sie sich erst einmal genau um, ob nicht eine traurige Hummel ausgezogen sei, um sie zu suchen - und lief dann, nachdem sie niemanden hinter den breiten Säulen des Hofs entdecken konnte, entschlossen los, um sich die nächste Träne aus dem Wasser zu fischen. Ihre nackten Füße huschten eilig über den warmen Marmorboden - und als wäre es ein langgeübter Tanz - gingen die geschmeidigen Bewegungen des Mädchens vor dem Rand des Teiches in eine Verbeugung zum Gewässer hin über und die Hände zitterten ihr leicht, als sie die erste vom Sieb herabfallende Wasserperle mit ihren schmalen Fingern berührte. Auch dieses Mal verschwand der Geruch der reinen Frühlingsluft und das ferne Summen der riesenhaften Insekten im Himbeergarten um sie herum abrupt und tiefe, undurchdringliche Dunkelheit umringte Honeybean. So dicht und schwer erschien ihr der Geruch des finsteren Zimmers, in dem sie sich jetzt befand, dass sie kaum noch zu atmen wagte. Das Mädchen stand in einer Ecke und konnte erkennen, dass die Vorhänge vor den breiten Fenstern des Raumes eng zugezogen waren. Von draußen her versuchte das schummerige Licht einer künstlich beleuchteten Außenwelt hereinzudringen, der Rest des Zimmers blieb ihr jedoch verborgen. So wartete sie einen Augenblick lang vergebens auf Geräusche, welche ihr die Anwesenheit eines weinenden Wesens verraten hätten. Es war tatsächlich, als sei die ganze Welt zu einem bewegungslosen Eisblock eingefroren worden. Honeybean verharrte geräuschlos an ihrem Platz und hätte schließlich fast die Geduld verloren, als sich auf einmal etwas in den Schatten des stillen Zimmers zu regen begann, um sich schwerfällig aufzurichten. Für das Mädchen war klar, dass es ein menschliches Wesen sein musste, welches sich nun langsam zu den Fenstern mit den undurchdringlichen Vorhängen hinbewegte und dabei erstaunlich geräuschlos an ihr vorüberzog. Der junge Mann, obwohl groß und schlank, schien beim Gehen von einer schweren, unsichtbaren Last niedergedrückt zu werden und sein Körper verströmte bei jedem weiteren Schritt den eigentümlichen Geruch von mit einer scharfen Axt angeschlagenem, blutendem Holz. Honeybean zwang sich zur Konzentration und richtete all ihre Aufmerksamkeit auf den Rücken jener dem Fenster zugewandten Gestalt, welche ihre Arme noch immer regungslos hängen ließ. Dann aber ging auf einmal eine feine Bewegung durch den Körper des Mannes und er hob seine Hand, um den Stoff des Vorhangs einen winzigen Spaltbreit beiseite zu schieben. Das Mädchen hielt seinen Atem an und stutzte. Wie der fahle Mond bei abnehmender Form wurde nun auch das Gesicht des jungen Mannes bloß ein kleines Stück vom weichen, hereinströmenden Licht der nächtlichen Stadt unter ihnen beleuchtet, doch genügte dies schon, um ihr Herz auf erschreckende Weise zum Stocken zu bringen. Noch nie, so erschien es Honeybean, hatte sie ein so schönes und eigentümlich zusammengestelltes menschliches Gesicht erblickt, welches die Klugheit und den Stolz eines wilden Fuchses besaß und in diesem einen Moment doch auch eine so tiefe Traurigkeit ausstrahlte, dass man in den grünen Augen jenes Menschen die Verlorenheit eines sterbenden Hirschkindes erblickte. Sie hätte noch eine ganze Weile in der Ecke des stillen Raumes dasitzen können, bloß um die Tränen auf den Wangen jenes Fremden zu betrachten, genau im nächsten Augenblick jedoch begannen sich die Umrisse um sie herum plötzlich aufzulösen und das Mädchen fiel in ein tiefes schwarzes Nichts. Danach fand sie sich bestürzt auf dem Boden vor dem Teich in ihrem altbekannten Palast wieder. Neben ihr saß eine herbeigeflogene Hummel und untersuchte sie aufgeregt mit den Fühlern. Das Tier schien zu spüren, dass das Mädchen sich einem merkwürdigen Wandel unterzogen hatte, konnte die Ursache der Veränderung aber noch nicht erkennen. Honeybean indessen richtete sich benommen auf, um zu einer der Bänke ganz in der Nähe zu gehen. Sie ließ sich darauf niedersinken und verspürte mit einem Mal einen stechenden, tiefen Schmerz, der sich von ihrer Brust aus in den ganzen Körper auszubreiten schien. Dieser Schmerz, so dachte das Mädchen nun bei sich, musste von der Gewissheit herrühren, dass sie das wundervolle Antlitz des ihr vollkommen unbekannten jungen Mannes nie wieder sehen würde. Seine Träne war verbraucht und eine weitere aus den gleichen Augen im Meer des Teiches wiederzufinden schien so gut wie unmöglich. Von diesem Tage an verlor sie allen Mut und alle Kraft, um wie eine leere Hülle durch das üppige Grün und den Innenhof des prächtigen Palastes zu wandeln. Die Hummeln im Himbeergarten jedoch liebten das Mädchen so sehr, dass sie bald einen Entschluss fassten und ihre Königin als Sprecherin vor die Füße der unglücklich Verliebten schickten. Es war um die Mittagszeit, als sich der pelzige, runde Körper des riesenhaften Tieres gemächlich von seinen Flügeln durch die Luft tragen ließ, um mit einem tiefen Brummen schließlich im Innenhof zu landen. Dort stand schon das Mädchen und starrte gedankenverloren auf den Teich hinaus. Mit den Gebärden ihrer zwei Fühler machte die Hummelkönigin auf sich aufmerksam und überbrachte Honeybean die Botschaft ihres Volkes:
„Liebe Honigbohne, es ist lange her, seit wir etwas von Euch gehört haben und wir sind sehr besorgt um Euren geistigen Zustand, der sich stetig zu verschlechtern scheint. Uns ist auch nicht entgangen, dass Ihr diesen Teich hier nun unserem Garten vorzieht und tagein, tagaus vor seinem Wasser weilt. Wir haben nicht die Geduld, noch längere Umschweife zu machen und nennen Euer Geheimnis darum gleich beim Namen, das uns durch kurze Überlegung sofort offenkundig geworden ist. Ihr müsst Euch dem Teich verbotenerweise genähert haben und in seinen Bann gefallen sein, wie es unumgänglich ist für alle, die sich dem Rat Eures Vaters widersetzen.“
Da erwachte Honeybean aus ihrer Teilnahmslosigkeit und ihre hübschen Wangen, die zuvor noch blutleer schienen, verfärbten sich mit einem Mal wieder rot. Sie wollte etwas erwidern, doch die Königin fuhr fort:
„Keine Angst, wir beabsichtigen nicht, Eurem Vater etwas davon zu erzählen. Wir wissen gut genug, dass der Schaden schon geschehen ist und selbst der Wächter nichts mehr für Euch tun kann. Wer sich einmal im Teich der Tränen verliert, kann nur noch schwerlich aus seinen Untiefen gerettet werden.“
Das Mädchen schluckte und fragte dann:
„Aber Ihr wisst, was mich retten könnte, nicht wahr?“
Die großen, schimmernden Augen der Hummelkönigin verblieben in ihrem Schwarz und zeigten keinerlei Regung.
„Gut dosiert wirkt das stärkste Gift oft als effektives Heilmittel. Wenn Euch also die Welt, die Ihr als bloße Spiegelung auf der Oberfläche jenes Wassers wahrgenommen habt, so begehrenswert erscheint, dass Ihr in Eurer echten Heimat nicht mehr leben wollt, scheint es doch am sinnvollsten, Euch einmal die Wirklichkeit auf der anderen Seite zu zeigen. Vielleicht folgt auf Eure Schwärmerei dann Ernüchterung und vielleicht werdet Ihr dann mit umso größerer Dankbarkeit in das Tal Eures Vater zurückkehren.“
Das Mädchen mit dem kastanienbraunen Haar ließ sich die Worte der Hummel durch den Kopf gehen und starrte hinaus auf die Weiten der grünen Wiese hinter den Säulen des Palasthofes.
„Heißt das also, Ihr wollt mir das Tor zur anderen Welt zeigen?“
Ihr Gegenüber antwortete ihr:
„Euer Vater wird wohl sehr wütend, wenn er von unserem Plan erfährt und wir wissen nicht, was mit Euch geschieht, wenn Ihr erst einmal auf der anderen Seite seid. Allerdings werdet Ihr dort, sofern Ihr unbeschadet bleibt, auch einen Weg finden, wieder in Eure Heimat zurückzukehren. Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als diesen Schritt zu wagen, zumal Ihr sonst immer schwächer werdet und zu einem bloßen Schatten verkommt, der - sich ununterbrochen nach dem Fernen verzehrend - bald unsichtbar geworden sein wird.“
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