„Was kann ich dagegen tun?“, fragte Paul den Orthopäden und der antwortete ihm klipp und klar:
„Da hilft nur eine Operation, bei der der Knorpel weg gefräst und vielleicht zur Stabilisierung eine kurze Schiene an die Wirbelsäule angebracht wird, lassen Sie sich die Sache durch den Kopf gehen, der operative Eingriff dauert nur zwei Stunden, danach werden Sie für zwei Wochen stationär aufgenommen und fahren anschließend für drei Wochen in die Reha, voll belastbar sind Sie dann erst wieder nach einem Vierteljahr, ich rate Ihnen, warten Sie mit der Operation nicht zu lange!“ Paul war dem Orthopäden für seine klaren Worte dankbar und besprach zu Hause mit Ute, was er denn tun sollte. Ute sagte ihm sofort, dass er sich operieren lassen und sich schon am nächsten Tag einen Einweisungsschein beim Orthopäden holen sollte. Bevor sich Paul für zwei Wochen ins Krankenhaus verabschiedete, nahm er in seinem Büro ein Päckchen aus seiner Schreibtischschublade und versteckte es zu Hause in seinem Gartenschuppen. Die Operation verlief vollkommen komplikationslos und Paul genoss die zwei Wochen, in denen er nach der Operation im Krankenhaus umsorgt wurde. Ute besuchte ihn jeden zweiten Tag und auch seine Arbeitskollegen schauten bei ihm vorbei und brachte ihm eine Kleinigkeit mit, eine Tafel Schokolade oder eine Flasche Wein. Einmal klopfte es an seine Zimmertür, und nachdem er zweimal „Herein!“ gerufen hatte und sich immer noch nichts tat, stand er auf und spürte zum ersten Mal seit Langem keine Schmerzen in seinem Rücken. Er freute sich und öffnete die Zimmertür von innen, und da stand Dieter Siemkes mit einem Blumenstrauß und wusste nicht, was er sagen sollte.
„Das ist ja schön, dass Du mich mal besuchen kommst, komm mit rein und setz Dich neben mein Bett!“, sagte Paul zu Dieter und nahm ihm die Blumen ab.
„Wie läuft es denn so auf Zollverein?“, fragte er den Azubi und Dieter antwortete:
„Ich gehe jetzt nochmal so gern zur Arbeit, und das habe ich nur Ihnen zu verdanken!“
„Na lass mal gut sein“, entgegnete Paul, „erzähl mir doch mal, was Ihr gerade in der Berufsschule durchnehmt!“
„Wir sprechen gerade über Geothermie und ihre Nutzung durch die Privathaushalte“, antwortete Dieter, „und wenn man sich einmal überlegt, bei welchen Temperaturen wir auf 1000 Meter arbeiten, fragt man sich schon, warum nicht schon früher jemand auf den Trichter gekommen ist, die Wärme nach oben zu leiten!“ Paul und Dieter unterhielten sich lange über diesen Punkt, und Paul dachte nur, dass er schon lange nicht mehr über Geothermie geredet hatte, eigentlich seit seiner eigenen Ausbildung nicht mehr. Nach eineinhalb Stunden verließ Dieter ihn wieder mit den besten Genesungswünschen und Paul verbrachte noch drei Tage in dem Krankenhaus, die ihm nicht langweilig vorkamen, er hatte sich mit Lesestoff eingedeckt und wusste sich auch mit seinem Zimmernachbarn zu unterhalten, abends sahen sie immer fern. Nach seiner Entlassung stand eine Reha-Kur an, die die Knappschaft bezahlen würde.
Er sprach mit dem Orthopäden darüber, dass die Kur auf Borkum stattfinden sollte, Ute käme mit und hätte drei Wochen Urlaub. Die Kinder waren alt genug, dass man sie in der Zeit allein lassen konnte, Ute kochte für sie vor und fror das Essen ein, das Jennifer und Pascal sich nur in der Mikrowelle erhitzen mussten. Es war Spätsommer geworden und Ute und Paul ließen es sich auf Borkum gut gehen, sie machten lange Strandspaziergänge und fühlten sich rundum wohl. Es kam die Sprache darauf, was mit Paul geschähe, wenn auf Zollverein die Kohleförderung eingestellt werden würde, und Ute fragte ihn direkt:
„Hast Du Dir schon einmal Gedanken über die Zeit nach Zollverein gemacht?“ Paul hatte es bis dahin immer vermieden, darüber zu sprechen, er schob seine Entscheidung, die unabdingbar bevorstand, vor sich her, er wollte einfach nicht wahrhaben, dass die Zeit des Kohleabbaus bald beendet sein sollte. Er war 43 Jahre alt und damit eigentlich viel zu jung, sich aufs Altenteil zu setzen, aber er wusste selbst nicht, wie die Zechenleitung mit den Kumpels in seinem Alter zu verfahren gedachte, er wollte den Tag X auf sich zukommen lassen. Die drei Wochen auf Borkum waren sehr schnell um, zu schnell wie Ute und Paul fanden, und sie beschlossen, im nächsten Sommer einmal Urlaub auf Borkum zu machen.
Als sie wieder zu Hause waren, nahm Paul seine Arbeit wieder auf, er achtete darauf, dass er dabei mit reduzierter Kraft vorging, wie ihm das der Orthopäde gesagt hatte. Man nahm auf der Zeche Rücksicht auf ihn und setzte ihn für leichte Tätigkeiten ein, er verbrachte auch schon einmal eine Schicht über Tage. Und dann kam im Frühjahr 1986 der Tag, an dem allen Kumpels auf Zollverein mitgeteilt wurde, dass der Betrieb zum Jahresende auslaufen würde, und jeder sich mit dem Gedanken vertraut machen sollte, seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Was mit jedem einzelnen geschehen würde, sollten alle beim Betriebsrat in Erfahrung bringen. Die Betriebsräte, also auch Paul, wurden in gesonderten Veranstaltungen darauf vorbereitet, ihre Kollegen kompetent zu beraten, was sie tun sollten, wenn ihre Arbeit auf Zollverein beendet wäre. Für die meisten käme eine Arbeit auf einer anderen Zeche in Frage und das waren Niederberg in Neukirchen-Vluyn, Friedrich-Heinrich in Kamp Lintfort und Prosper-Haniel in Bottrop, bis auch diese Zechen schließen würden, aber dazu konnte man im Moment noch nichts Konkretes sagen. Als die Zeche Zollverein im Dezember 1986 geschlossen wurde, wurde die gesamte Zechenanlage vom Land NRW übernommen und unter Denkmalschutz gestellt. Paul ging für 10 Jahre zu Prosper-Haniel und fuhr mit Kollegen aus der Nachbarschaft gegen Beteiligung am Spritgeld mit, er selbst hatte noch nie ein Auto und wollte sich auch keins anschaffen.
Ute und er waren Mitte Fünfzig, als ihre Kinder längst aus dem Haus waren, beide ein Studium abgeschlossen hatten und Pascal Architekt und Jennifer Gymnasiallehrerin für Englisch und Mathematik geworden waren. Beide hatten sie auch schon Familie und kamen mit ihren Kindern regelmäßig nach Katernberg zu Besuch, worüber sich Oma Ute und Opa Paul immer sehr freuten. Eines Tages kam Paul zu Ohren, dass für Führungen über die inzwischen renovierte und in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommene Zeche qualifiziertes Personal gesucht wurde. Paul fühlte sich angesprochen und bewarb sich bei der Stiftung Zollverein auf die ausgeschriebene Stelle. Schon nach dem ersten Gespräch war klar, dass es einen qualifizierteren Menschen als ihn für die Stelle gar nicht geben konnte, und er bekam den Posten. Damit war für Paul seine Zeit als Bergmann endgültig vorbei, und er übernahm es, Besuchern etwas von dem Gefühl und dem Empfinden, das die Bergleute damals gespürt hatten, zu vermitteln. Als er seine alte Arbeitsstätte wiedersah, traute er seinen Augen kaum, so sehr hatte sich alles verändert. Der Doppelförderturm an Schacht 12 war zum weltweit bekannt gewordenen Symbol des Weltkulturerbes geworden und Paul empfand Stolz dabei, in einer Einrichtung mit Weltgeltung arbeiten zu dürfen. Seine Aufgabe bestand darin, Besucher zu den Schnittstellen der ehemaligen Kohleförderung zu führen und Besucher gab es reichlich auf Zollverein. Auch ausländische Besucher gab es in Massen, und Paul sah sich mit einem Mal vor das Problem gestellt, japanischen Besuchern auf Englisch erzählen zu müssen, was sie jeweils zu sehen bekamen.
Aber man hatte ihm schon bei der Bewerbung auf diese Stelle nahegelegt, sein Englisch aufzufrischen und Kurse bei der VHS zu belegen, und das hatte Paul dann auch getan. Er fühlte sich am Ende sogar ziemlich sicher, wenn er von ausländischen Besuchern um Auskünfte gebeten wurde. Der neue Job erfüllte ihn voll und ganz, und er ging in ihm auf. Ute bekam mit, wie er immer frohen Mutes von Zollverein nach Hause kam und guter Dinge war. Das war schon etwas anderes, als seine Beschäftigung unter Tage und seit sein Rücken wieder in Ordnung war, konnte er sich bewegen wie ein junger Mann. Ute und Paul führten ein glückliches Leben als Großeltern und Paul ging mit 65 Jahren in Rente, wenngleich es ihm sehr schwerfiel, seiner alten Wirkungsstätte den Rücken zu kehren. Aber irgendwann musste auch für Paul das Arbeitsverhältnis beendet werden, das für ihn entbehrungsreich genug gewesen war. Jennifer und Pascal waren sogar beide ein bisschen stolz auf ihren Vater, dass er nun Guide auf Zollverein geworden war, und sie besuchten ihn auf Zollverein regelmäßig mit ihren Kindern. Sie setzten sich dann vor dem Museumseingang vor das Cafe und ihre Kinder genossen es, wenn sie ein Eis schlecken durften.
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