Jakob war am Ende beinahe der einzige, der von den Männern noch ansprechbar war, und bevor die Situation vor der Kapelle völlig eskalierte, radelte Familie Brenker mit Norbert und Rene nach Hause. Der Pfarrer, der es lange bei den Festgästen ausgehalten hatte, war schon längst gegangen. Am nächsten Morgen saßen bei Brenkers alle beim Frühstück und unterhielten sich über den Vorabend, Norbert meinte:
„Da haben einige ganz schön getankt und sind aggressiv geworden, wir haben so etwas schon in den Discos erlebt, das Beste, das man als Außenstehender dann tun kann, ist zu gehen.“
„Genau so sehe ich das auch“, sagte Jakob, „ich habe so etwas auch schon bei uns in der Gaststätte erlebt und bin einfach abgehauen, genau wie wir das gestern getan haben.“
„Ich verstehe die Männer auch nicht, die sich so besaufen wie die gestern Abend“, sagte Gerda, „habt Ihr den Verkäufer von Pegels gesehen, der war mit der Erste, der sich völlig daneben benommen hat, als wir gingen, habe ich ihn in seinem Erbrochenen liegen gesehen.“ Die Kapellenfeier zog sich über insgesamt drei Tage hin und Gerda und Jakob würden am Abend noch einmal nach Finkenberg fahren und feiern. Die jungen Leute lehnten es aber ab, noch einmal nach Finkenberg zu fahren, sie wollten am Abend lieber ins PM nach Moers. Jakob ging mit Gerda in den Stall zu den Kühen, um sie an die Melkmaschine anzuschließen und weil die jungen Leute noch da waren und einmal schauen wollten, gingen sie mit in den Stall.
Norbert und Rene kamen beide aus Neukirchen-Vluyn und waren deshalb mit der Landwirtschaft nicht so vertraut. Nora und Lydia waren beide auf dem elterlichen Hof aufgewachsen und kannten deshalb natürlich die Tiere. Jakob hatte 60 Kühe im Stall stehen, von denen aber nur ein Teil mit der Melkpumpe gemolken wurde, während die anderen Tiere fraßen, bis auch sie mit Melken dran waren. Danach wurde die Tiere auf die Weide geführt und die nächsten 60 Kühe kamen an die Reihe. So ging es reihum, bis alle 204 Kühe von Bauer Jakob gemolken waren. Die Jungen schauten interessiert zu und Rene fragte:
„Wurden etwa früher alle Kühe von Hand gemolken?“ und Jakob antwortete:
„Eine andere Möglichkeit gab es nicht, die Bauern hielten sich deshalb viel weniger Kühe als wir heute, damit sie mit dem Melken überhaupt nachkamen.“ Gerda nahm die jungen Leute beiseite und ging mit ihnen zu einer einzeln stehenden Kuh, nahm einen Melkeimer und einen Melkschemel, auf den sie sich neben das Euter der Kuh setzte und fing an, mit der Hand zu melken. Nora und Lydia hatten das früher schon einmal probiert und waren dabei kläglich gescheitert. Denn man konnte nicht einfach an der Zitze ziehen, sondern man musste sie in einer speziellen Art greifen und nach unten abstreifen. Das erforderte einige Übung, konnte aber schnell gelernt werden.
„Darf ich das einmal ausprobieren?“, fragte Norbert Noras Mutter. Sie bot ihm den Platz auf dem Melkschemel an und Norbert setzte sich neben die Kuh und griff nach ihren Zitzen. Als ihm aber plötzlich der Schwanz der Kuh ins Gesicht gewedelt wurde, und die Kuh ordentlich Fladen abließ, hatte Norbert schnell genug und stand unverrichteter Dinge wieder auf. Die jungen Leute verließen den Stall wieder und gingen ins Haus zurück, Jakob und Gerda blieben allein bei den Kühen. Beide schoben sie mit Gabeln frisches Gras zusammen, das Jakob seinen Tieren vor ihre Boxen gelegt hatte. Als Gerda mit ihrer Gabel an einer Bohle oder etwas Ähnlichem auf dem Stallboden hängenblieb und nachschauen wollte, was da los war, kam Jakob zu ihr und sagte:
„Lass nur, ich mache hier weiter, geh Du nur darüber!“ und er blickte seine Frau dabei nicht an, sondern richtete seine Augen auf das Hindernis auf dem Stallboden, das Gerdas Gabel festgehalten hatte. Am frühen Nachmittag kehrten auch die beiden ins Haus zurück und Gerda stellte einen großen Topf mit Erbsensuppe und Speck mit Würstchen auf den Tisch, und sie rief die jungen Leute zum Essen. Gerda hatte die Erbsensuppe schon vorbereitet, es gab samstags bei Brenkers oft einen Eintopf, und den mochten in der Regel auch alle gern.
Am Abend fuhren Gerda und Jakob noch einmal mit ihren Rädern nach Finkenberg und setzten sich dort vor der Kapelle wieder an einen Biertisch. Es war an diesem Abend bei Weitem nicht mehr so viel los wie am Vorabend, und es ging auch insgesamt gesitteter zu. Zwar wurde wieder viel getrunken, auch Schnaps, aber es kam nicht zu diesen besinnungslosen Ausfällen wie am Vorabend, und niemand wurde aggressiv.
Sie sangen wieder alle Sommerlieder und waren vergnügt, an Gerdas und Jakobs Tisch saßen ihre Nachbarn vom Kloutenhof, und sie hatten Spaß zusammen und unterhielten sich. Die beiden hatten auch zwei Töchter, die in etwa das Alter von Nora und Lydia hatten, aber die vier hatten nie zusammengefunden, niemand wusste, warum das so gekommen war, aber als Erwachsener konnte man sich in solche Beziehungsgeschichten bei den jungen Leuten ohnehin nicht einmischen. Sie saßen wieder bei dem Gegrillten und aßen nach Herzenslust, und als der Pfarrer gegen 22.00 h das Fest verließ, machten Brenkers auch nicht mehr allzu lange. Jakob holte noch einmal Bier und fuhr gegen 23.00 h mit seiner Gerda nach Hause.
„Das war aber heute Abend bedeutend erträglicher als gestern“, sagte Gerda und Jakob stimmte ihr zu:
„Das lag daran, dass nicht so viel Schnaps getrunken wurde, der eben viele aggressiv macht, und die großen Schnapstrinker fehlten heute Abend.“ Eigentlich fand am Sonntag die letzte Feier an der Kapelle statt, aber Gerda und Jakob verzichteten auf den Besuch und blieben zu Hause. Als in der Folgewoche Lydia mit einer verhauenen Klausur nach Hause kam, und Gerda sie in Schutz nahm mit den Worten:
„Es gibt Schlimmeres, davon geht die Welt nicht unter!“, Jakob gerade in der Küche saß und Zeuge der schlechten Nachricht wurde, konnte man Jakob mit einem Mal erleben wie sonst nur ausgesprochen selten.
„Wie kannst Du es wagen, mit so einer schlechten Klausur nach Hause zu kommen!“, schrie er Lydia an, dabei schwollen seine Halsschlagadern an und sein Gesicht verfärbte sich rot.
„Und Du spielst das auch noch herunter!“, bölkte er seine Frau an, und seine Stimme überschlug sich fast. Sein Gegröle erreichte eine Lautstärke, dass man ihn noch draußen hätte hören können, wenn da jemand gewesen wäre. Aber Brenkers wohnten weitab vom Schuss, und so verhallte Jakobs Geschrei über den Wiesen. Lydia war ganz in sich gesunken und hatte zu weinen angefangen, ihre Mutter nahm sie in ihre Arme und tröstete sie. Jakob, der sich immer noch nicht ganz beruhigt hatte, stand auf und verließ unter lautem Poltern die Küche. Das war ein Ausbruch bei Jakob gewesen, der so gar nicht zu dem Gemütsmenschen passen wollte, aber wenn es ihn einmal packte, konnte er eben auch so ein Ekelpaket sein. Nach ein paar Stunden hatten sich die Wogen aber wieder geglättet, und auch Lydia hatte sich wieder beruhigt. Sie war auch weniger wegen ihrer schlechten Klausur ins Weinen verfallen als vielmehr wegen des Ausrastens ihres Vaters, der sie erschrocken hatte, so wie er da quasi neben sich gestanden war.
Gerda fuhr für ihre Einkäufe immer zu Edeka nach Aldekerk und freute sich darauf, einmal in der Woche dorthin zu kommen und die Frauen von den Nachbarhöfen zu treffen, mit denen sie sich vorher verabredete. Sie kauften alle die Dinge des täglichen Bedarfs und zog den Einkauf bewusst in die Länge, was in dem riesigen Laden, den Edeka da vor das Dorf gesetzt hatte, auch kein Problem war. Im Anschluss gingen die Bauersfrauen immer noch Kaffee trinken und ein Stück Kuchen essen, und dabei wurde unendlich viel erzählt. Sie redeten vor allem über das vergangene Kapellenfest und die vielen Schnapsleichen, die dort zu verzeichnen gewesen waren.
„Habt Ihr auch den Verkäufer von Pegels in seinem Erbrochenen liegen gesehen?“, fragte Gerda ihre Freundinnen, und jede brachte ihren Abscheu vor dieser Unbeherrschtheit zum Ausdruck. Sie kamen am Ende auf ihre Kinder zu sprechen und Gerdas Nachbarinnen erzählten, dass ihre Kinder ganz gut auf den Schulen zurecht kämen bzw. erfolgreich ihre Ausbildung absolvierten. Ein Junge lernte bei Trox in Vluyn Industriekaufmann, er hatte vorher die Realschule besucht und war glücklich mit seiner Ausbildung. Sein Vorteil war, dass er gleich über Geld verfügte und sich ein Auto leisten konnte. Der andere Junge lernte Außenhandelskaufmann bei De Beukelaar in Kempen und war ebenfalls sehr zufrieden mit seinem Werdegang. Die anderen Kinder besuchten Schulen wie Nora und Lydia, manche in Geldern und andere in Neukirchen-Vluyn.
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