„Was unsere Nora und unsere Lydia einmal werden wollen, steht noch völlig in den Sternen“, sagte Gerda, „so viel Zeit haben sie schließlich nicht mehr, aber ich denke, dass sie beide von zu Hause ausziehen und studieren werden.“
„Da geht es ihnen wie unseren, bei denen auch alles noch unsicher ist, aber das wird sich schon einrenken und sie werden einen Studiengang ergreifen, der sie zufriedenstellt.“ Solche Zusammenkünfte wie die im Cafe in Aldekerk erfüllten die Bauersfrauen immer mit großer Zufriedenheit, und sie gaben ihnen Energie, von der sie zehren konnten, wenn sie wieder zu Hause waren. Jakob merkte diesen Energieschub seiner Frau immer an und er freute sich für sie. Es war ihm schon klar, dass der Hof allein Gerda nicht ihr Lebensglück bescheren konnte, von dem sie träumte, aber es gab ja auch noch ihre Kinder und deren schulischen Erfolg, über den sie sich freuen konnte, wenn es auch gelegentlich einige Rückschläge gab, aber die konnte Gerda ohne Probleme verschmerzen, und auch Jakob würde noch damit umzugehen wissen.
„Paul, beeil Dich mal ein bisschen, wir fahren in zwei Minuten runter!“, riefen Paul seine Arbeitskollegen in der Kaue zu und Paul hängte seine Sachen an den Haken, der an einer Kette befestigt war, und den er bis oben an die Decke hochzog. Daraufhin nahm er seinen Grubenhelm mit der an ihm fixierten Grubenlampe, richtete seine Bergmannszunft und lief zum Förderkorb, wo schon seine Arbeitskollegen auf ihn warteten, um mit ihm nach unten auf 1000 Meter zu fahren und ihre Mittagsschicht zu beginnen. Paul Kamphusen war Bergmann auf der Zeche Zollverein in Essen-Katernberg und fuhr täglich mit seinen Kumpels unter Tage, um dort Kohle zu machen. Sein Job war sehr anstrengend und Außenstehende können sich kaum vorstellen, was es bedeutete, in 1000 Meter Tiefe in großer Hitze und bei sehr viel Staub schwere körperliche Arbeit verrichten zu müssen. Paul war 43 Jahre alt und wohnte mit seiner Familie in einem Zechenhäuschen in Katernberg, es war ein kleines Häuschen und seine beiden Kinder Pascal und Jennifer, die 16 und 17 Jahre alt waren und das Leibniz-Gymnasium besuchten, hatten unter dem Dach jeweils ein Minizimmer, in das ein Bett, ein Schrank und mit viel Mühe auch noch ein kleiner Schreibtisch passten. Paul und seine Frau Ute mussten sich im Erdgeschoss mit einem überschaubar großen Wohnzimmer und einem Schlafraum begnügen. Paul Kamphusen war Bergarbeiter und sein Körper war von den Strapazen während seiner Arbeit gezeichnet. Er hatte einen Haltungsschaden, den er nur mit viel Geschick kaschieren konnte, wenn er ging und sich in die Vertikale zwang.
In unbeobachteten Momenten sackte er aber mit schmerzverzerrtem Gesicht in sich zusammen und klagte über Rückenschmerzen. Vor drei Jahren war er Opfer eines Grubenunglücks, das sich auf Zollverein zugetragen hatte, und bei dem ihm ein großes Stück Fels auf den Körper geschleudert worden war. Er hatte aber Glück und wurde von den Rettungsmannschaften, die schnell vor Ort gewesen waren, nach oben und ins Krankenhaus gebracht, wo man sich gleich um ihn kümmerte. Eigentlich hätte er in den Vorruhestand geschickt werden müssen, es gelang ihm aber unter Aufbietung aller ihm zur Verfügung stehenden Kräfte, den Eindruck vor dem Belegschaftsarzt zu erwecken, dass es nicht so schlimm um ihn bestellt war, wie alle zunächst dachten, und sein Beschäftigungsverhältnis wurde aufrechterhalten. Denn mit 43 in den Vorruhestand zu gehen, das war für Paul eine Vorstellung, mit der er sich überhaupt nicht anfreunden konnte, und alle Arbeitskollegen freuten sich, ihn nach seiner Genesung wieder in ihrer Runde begrüßen zu können. Denn Paul war ein von allen geachteter und guter Bergmann, der zwar ein wenig spröde und manchmal auch ernst war, auf den man sich aber hundertprozentig verlassen konnte, und der ein gutes Herz hatte. Die Zeche Zollverein war in dem Zeitraum ihrer Kohleproduktion eine der modernsten Steinkohlezechen Europas und sie hatte eine Förderleistung von 3 Millionen Tonnen jährlich. Ihr war eine Kokerei angeschlossen, die ebenfalls als eine der modernsten Anlagen Europas galt, und in der täglich 10000 Tonen Steinkohle zu 8600 Tonnen Koks veredelt wurden.
Koks war der Brennstoff für die Hüttenwerke der Umgebung im näheren und weiteren Ruhrgebiet. Aufgrund der Stahlkrise und der fallenden Koksnachfrage wurde der Kokereibetrieb später eingestellt. Die Zeche lief auf Hochtouren und die Kumpels hatten unter Tage zu tun und überboten sich täglich in der Tagesfördermenge. Auch Paul war immer daran interessiert, ein gutes bis sehr gutes Tagesergebnis abzuliefern, und er befand sich dabei in Konkurrenz zu seinen Arbeitskollegen, die diese Konkurrenz aber nie negativ auffassten, sondern als gesunden Ansporn ansahen. Immer wenn Paul nach der Frühschicht mit dem Förderkorb hochfuhr und sich in der Kaue den Schmutz abgeduscht hatte, fuhr er danach mit seinem Fahrrad nach Hause, wo Ute mit dem Essen auf ihn wartete. Manchmal saßen Jennifer und Pascal mit am Tisch, es kam aber nie vor, dass sie ihren Vater nach seiner Arbeit fragten. Umgekehrt interessierte es Paul aber schon, zu wissen, wie die Leistungen seiner Kinder auf dem Gymnasium waren. Er konnte aber nur die Noten der beiden zur Kenntnis nehmen, inhaltlich sich mit Jennifer und Pascal über die Schule auseinanderzusetzen, dazu sah er sich nicht in der Lage, und das wussten die beiden natürlich. Sie schwammen im Mittelfeld mit und hatten keine Bedenken, das Abitur zu schaffen. Ihre Mutter war für sie schon eher eine Ansprechpartnerin im Hinblick auf das Gymnasium, wenngleich auch sie nicht verstand, worum es bei ihren Kindern in den einzelnen Unterrichtsstunden überhaupt ging.
Aber darauf kam es Jennifer und Pascal gar nicht an, für sie war es wichtig zu wissen, dass es jemanden gab, dem sie sich anvertrauen konnten, und dazu war Ute immer bereit. Wenn Paul Mittagsschicht hatte, musste er um 14.00 h auf der Zeche anfangen und arbeitete bis 22.00 h, hatte er Nachtschicht, dauerte sie von 22.00 h abends bis 6.00 h morgens. Der Schichtdienst hatte längst seinen Biorhythmus völlig durcheinandergewirbelt, und auch das ging auf seine Gesundheit. Er hatte ganz ungewöhnliche Schlafenszeiten, so ging er nach seiner Nachtschicht am frühen Morgen, wenn seine Kinder zur Schule aufbrachen, ins Bett und wenn er Nachtschicht hatte, ging er zur Arbeit, wenn Jennifer und Pascal kurze Zeit später schlafen gingen. Er war aber bei guter körperlicher Konstitution, wenn man einmal von seinen Rückenbeschwerden wegen des Arbeitsunfalls absah. Ute half an jedem zweiten Tag in einem Altenheim, das sich zwei Straßen weiter von ihrem Zuhause befand, und obwohl sie keine ausgebildete Pflegekraft war, verstand sie es, sich liebevoll um die alten Menschen zu kümmern, und ihr Dienst wurde von ihnen dankbar angenommen. Alle mochten Ute und Ute hatte eine Engelsgeduld, wenn sie mit ihnen Mensch-ärgere-Dich-nicht spielte.
Sie empfand Erfüllung dabei in ihrem ansonsten nicht sehr ausgefüllten Alltag. Die Tätigkeit im Altenheim war genau das, worin Ute den Sinn ihres Lebens sah. Es erfüllte sie mit großer Freude zu sehen, wie die Alten aufblühten, wenn sie sich ihnen widmete. Ute kam selbst wie gelöst vom Altenheim nach Hause und hatte positive Energie getankt, die sie allen zuteil werden lassen konnte, und Jennifer und Pascal, aber auch Paul registrierten ihre gewonnene Stärke mit Zufriedenheit. In ihrer Freizeit unternahmen Ute und Paul nie etwas Besonderes, danach stand den beiden nicht so sehr der Sinn. Höchstens, dass sie mal in ihre Kneipe um die Ecke gingen, dort zwei Stauder tranken und sich mit Bekannten unterhielten, meistens über Rot-Weiß-Essen. Paul war früher öfter im Georg-Melches-Stadion gewesen und hatte sich die Spiele seines Vereins angesehen, manchmal war Ute mitgegangen. Er hatte seine Stadionbesuche aber völlig eingestellt erstens, weil sein Verein abgestiegen war und nur noch in der vierten Liga spielte und zweitens, weil er sich zu müde fühlte, um geschlagene zweieinhalb Stunden auf der Tribüne zu stehen, und ein Sitzplatz war ihm zu teuer. Die Kinder waren nie mit ins Stadion gegangen, sie interessierten sich nicht für Fußball, ihre Interessen im Sport lagen bei Reiten und Basketball, und ansonsten saßen sie vor ihren Computern. Das einzige, das Paul neben seinem Beruf noch ernsthaft betrieb, war seine Gewerkschaftsarbeit, er war als Funktionär der IGBE Betriebsrat auf der Zeche Zollverein und als solcher Ansprechpartner aller dort Beschäftigten, wenn es um Konflikte mit der Betriebsleitung ging.
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