Paul nahm diese Funktion sehr ernst, und er arbeitete gewissenhaft an der Erfüllung seiner Aufgaben. Einmal im Monat ging er auf einen Gewerkschaftsabend oder zu Schulungen. Er hielt auf Zollverein Sprechstunden ab, in denen seine Arbeitskollegen zu ihm kommen und ihr Leid klagen konnten. Paul war stolz, als Gewerkschafter Ansprechpartner für seine Kollegen sein zu dürfen, und auch Ute sah es gern, wenn er dieses Amt wahrnahm. Die Zukunft der Zeche Zollverein sah nicht sehr rosig aus, wie allgemein bekannt war. Es gab ausländische Kohle auf dem Markt, die zum Beispiel aus Australien kam und trotz des Seeweges um die halbe Erde und trotz ihres Transportes von Rotterdam nach Duisburg-Ruhrort billiger zu haben war als die heimische Kohle. Das lag im Falle der australischen Kohle daran, dass sie im Tagebau gefördert wurde, was die Förderkosten auf ein Minimum reduzierte. Andere Herkunftsländer der Kohle verzichteten auf Sicherheitsvorkehrungen, die in Deutschland unter Tage getroffen werden mussten. Das machte die Kohleförderung natürlich auch billiger, war aber für die Kumpels vor Ort weitaus gefährlicher. Dieses Weltmarktungleichgewicht bedrohte mittelfristig die deutsche Kohleförderung und machte den Kumpels Angst, denn sie drohten arbeitslos zu werden.
Auch Paul sah selbstverständlich die nicht sehr guten Zukunftsaussichten für seine Zeche, meinte aber, dass man nicht so sehr an die Zukunft denken, sondern lieber seine Tagesarbeit abliefern sollte, und das sagte er auch allen Kumpels in seiner Sprechstunde. Denn warum sollten sie Trübsal blasen mit der Arbeit vor ihrer Brust, der Tag des Produktionsstillstandes käme für sie noch früh genug. Auch Ute war gelegentlich besorgt, wenn sie in die Zukunft blickte, aber Paul wusste sie immer zu beruhigen und verwies darauf, dass er notfalls in den Vorruhestand gehen würde, wenn er vernünftig abgefunden werden würde. Eines Tages geschah etwas in seiner Sprechstunde, das er so schnell nicht vergessen würde. Ein junger Auszubildender kam zu ihm, Dieter Siemkes war sein Name und klagte ihm sein Leid, er wäre unter Tage beim Rauchen erwischt und sofort entlassen worden. Für Paul war die Sache eigentlich sofort klar und er wusste, dass er Dieter nicht würde helfen können, denn Rauchen unter Tag war das Schlimmste, was man sich zu Schulden kommen lassen konnte, und das wusste jeder, der unter Tage arbeitete. Es war nicht nur so, dass überall auf Schildern ein Rauchverbot ausgesprochen wurde, besonders die Auszubildenden wurden beinahe täglich darauf aufmerksam gemacht, wie gefährlich es war, unter Tage zu rauchen.
Denn dort kam es in regelmäßigen Abständen zu Methangaskonzentrationen, und wenn das der Fall war, musste der Schacht sofort gut gelüftet werden, und alle Arbeit musste in der Zeit ruhen. Das Tückische am Methangas war, dass es unsichtbar, geruchlos, giftig und hochexplosiv war. Es reichte ein nur kleiner Funke, und man hatte eine Schlagwetterexplosion, wie man eine Explosion von Methangas auch nannte, der schon viele Kumpels zum Opfer gefallen waren. Dass unter diesen Umständen absolutes Rauchverbot unter Tage herrschte, war jedem unmittelbar einsichtig und musste eigentlich nicht noch gesondert hervorgehoben werden. Dennoch predigten die Ausbilder den Auszubildenden mehrmals täglich, dass sie unter Tage nicht rauchen durften. Aber die Auszubildenden waren jung und hielten sich nicht gern an Verbote, noch dazu übten Verbote einen ganz besonderen Reiz aus, sie zu übertreten. Dieter Siemkes war 18 Jahre alt und im dritten Lehrjahr als Anlagenmechatroniker, er hätte noch ein halbes Jahr bis zu seiner Gesellenprüfung gehabt und ihn traf seine Entlassung deshalb besonders hart. Natürlich würde Paul sich für Dieter verwenden und alles in Bewegung setzen, um die Entlassung wieder rückgängig zu machen. Er sagte Dieter aber gleichzeitig, dass er sich keine übertriebenen Hoffnungen machen dürfte, er hätte so ziemlich das Schlimmste getan, was man unter Tage hätte tun können. Dieter hörte sich an, was Paul ihm sagte und ließ den Kopf hängen.
„Dann werde ich meine Sachen packen und gehen!“, sagte er zu Paul.
Aber Paul wollte nicht so leicht aufgeben und sagte zu Dieter:
„Warte ab, ich will noch ein Gespräch mit dem Reviersteiger führen, und erst wen der sagt, dass Deine Entlassung unumstößlich ist, wirst Du wohl gehen müssen!“
Paul rief den Reviersteiger an und verabredete sich mit ihm zu einem Gespräch unter vier Augen, das am nächsten Tag stattfinden sollte. Dieter ging betrübt nach Hause und würde abwarten müssen, was das Gespräch zwischen dem Steiger und Paul am nächsten Tag bringen würde. Paul erzählte Ute von Dieters Vergehen unter Tage und Ute hatte kein Verständnis für den Auszubildenden:
„Selbst schuld, kann ich da nur sagen, den Auszubildenden wird doch quasi permanent gesagt, dass sie unter Tage nicht rauchen dürfen, Dieter hat sich seine Entlassung selbst zuzuschreiben!“ Aber Paul ließ sich von seinem Vorsatz, in dem Gespräch mit dem Steiger alles zu versuchen, um die Entlassung noch abzuwenden, nicht abbringen. Am nächsten Tag traf er mit dem Reviersteiger Lezek Nizkowski zusammen, einem Polen, der in Deutschland geboren war und eine Bergbaukarriere hingelegt hatte, die ihresgleichen suchte: in zwölf Jahren vom Auszubildenden zum Reviersteiger und das bei den anfänglichen Sprachschwierigkeiten, mit denen er zu tun hatte. Lezek wohnte nicht weit von Paul entfernt, die beiden hatten privat aber kaum einmal etwas miteinander zu tun.
„Ich habe schon gehört, warum Du zu mir gekommen bist, lass es Dir gleich zu Anfang sagen: von meinem Entschluss, den Auszubildenden zu entlassen, lasse ich mich von Dir nicht abbringen“, sagte Lezek zur Eröffnung des Gesprächs.
„Du warst selbst einmal Opfer einer Schlagwetterexplosion und müsstest mir Recht geben!“
„Lezek, lass mich erklären, Du hast natürlich Recht, der Junge hat den größten Fehler gemacht, den man unter Tage nur machen kann, aber sieh doch, wir können ihm doch nicht seine Zukunft verbauen, er würde in einem halben Jahr seine Gesellenprüfung ablegen und wäre fertig, glaub mir, er würde sich am liebsten selbst in den Arsch beißen, weil er so ein Hammel gewesen ist!“, entgegnete Paul. Lezek ging in seinem Büro auf und ab, es arbeitete in ihm, das konnte man sehen und nur dem Umstand, dass er selbst Kinder in Dieters Alter hatte und sich in etwa in deren Wahrnehmungsweise hineinversetzen konnte, war es zu verdanken, dass er schließlich klein beigab und sagte:
„Sag Deinem Azubi, dass er bei der geringsten Kleinigkeit, die er sich in Zukunft erlaubt, fliegt, ansonsten soll er seine Ausbildung fortsetzen!“ und Lezek stürmte aus seinem Büro. Paul fiel ein Stein vom Herzen, er wusste, dass Lezek nicht so hartherzig sein und Dieter einfach davonjagen konnte, und er hatte sich in ihm nicht getäuscht.
Er bestellte Dieter am Nachmittag zu sich und setzte die ernsteste Miene auf, die er nur aufsetzen konnte, und als er Dieter Lezeks Entschluss verkündete, kam Dieter auf ihn zu und fiel ihm um den Hals.
„Ich werde der beste Azubi sein, den Sie sich nur wünschen können!“, versprach er und war aus ganzem Herzen glücklich.
„Dann geh mal wieder an Deine Arbeit!“, sagte ihm Paul, und Dieter stürmte gleich los zur Kaue, zog sich um und fuhr unter Tage. Paul war zufrieden mit dem Ausgang des Konflikts um die drohende Entlassung von Dieter, und als er zu Hause Ute davon erzählte, sagte sie:
„Hoffentlich enttäuscht Euch der Junge nicht!“ Aber Paul war fest davon überzeugt, dass Dieter in dem verbleibenden halben Jahr seiner Ausbildung alles geben würde. In letzter Zeit machte ihm sein altes Rückenleiden doch sehr zu schaffen und Paul war bei seinem Orthopäden in Therapie, der sich Röntgenbilder von seinem Rücken ansah und ihm sagte:
„Sie haben bei der Schlagwetterexplosion vor drei Jahren eine leichte Fraktur der Wirbelsäule davongetragen, an der Bruchstelle haben sich Knorpel gebildet, die den Wirbelkanal verengen und den Nerv reizen, dadurch entstehen ihre Schmerzen.
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