1 ...6 7 8 10 11 12 ...21 „Du hast auch schon mal mehr vertragen, Melli, du wirst alt. Das ist das erste Anzeichen. Komm, ich fahr dich heim.“
Gackernd stand ich auf, immer noch von dem schönen Bild fasziniert, wie Gerlinde den Häkelkreis zu Tränen langweilte. „Ich bin nicht besoffen. Das ist bloß der Galgenhumor, weil Kathrin mich morgen platt machen wird – und wie... O Scheiße!“
Ernüchtert folgte ich Jörg zum Auto und ließ mich brav zu Hause absetzen.
Eigentlich war es noch gar nicht so spät – aber jetzt noch den Laptop ankurbeln? Wieder über diese doofe WG nachdenken? Zwecklos, lieber legte ich mich ins Bett, dachte mir eine richtig schöne Geschichte aus, schlief gut und ging morgen ganz, ganz früh ans Werk - mit dem ultimativen Entwurf. Ein wirklich überzeugender Plan!
Er klappte auch – beinahe. Ich kam nur eine Stunde später aus dem Bett als geplant und saß brav um neun vor meinem Rechner. Im Schlaf hatte mich die Muse nicht sehr nachdrücklich geküsst, ich hatte zwar etwas Spannendes geträumt, konnte mich aber nur noch nebelhaft daran erinnern. Also gab es zwei Möglichkeiten: Entweder spann ich die WG-Geschichte weiter aus oder mir fiel jetzt sofort und auf der Stelle etwas Besseres ein, eben die ultimative Geschichte, die Kathrin ein entzücktes Quietschen entlocken würde.
In meinem Kopf fand sich nichts Ultimatives. Gähnende Leere!
Erstmal einen Kaffee!
Und eine Zigarette. So, jetzt aber! Jetzt war das Hirn wach. Fürs richtige Schreiben war jetzt keine Zeit mehr, ich musste ein Exposé in die Tasten hacken, das Kathrin vom Stuhl haute.
* Drei von vier Bewohnern sind zu Hause, alle im Weihnachtsblues und alle sauer auf den Vierten, der ihnen der Inbegriff allen Übels zu sein scheint.
* Thomas (der vierte) kommt nach Hause, glänzender Laune. Er hat gut gegessen (Gänsebraten), seinen Bruder geärgert, einen fetten Weihnachtsscheck kassiert und seine Freundin Sandra dabei. Die will er zwar bald abstoßen, aber für ein Feiertagsnümmerchen reicht es bestimmt noch.
* Kichernd verschwinden sie in seinem Zimmer, wo alsbald die Bettfedern quietschen. Die anderen hören das und ärgern sich aus verschiedensten Gründen (auch, weil sie selbst zurzeit gar keinen Sex haben)
* Schließlich treffen sich alle in der Küche, es ist schon wieder Abend. Nach der ersten Runde Glühwein kommt es zum Streit, wegen Ausnutzen von Frauen, Essens von Fleisch, machohaften Gehabes und im Gegenzug wegen dummem Emanzengequatsche, der Theorie, dass Veganer an Mangelerscheinungen eingehen, und Sexualneid. Thomas, ziemlich angetrunken, renommiert mit seinen Erfolgen bei Frauen, und Sandra sieht zunehmend etwas verkniffen drein, protestiert aber nicht laut, obwohl Silvia sie aufzuhetzen versucht.
* Verärgert gehen schließlich alle ins Bett.
* Am nächsten Morgen stolpert Johanna in die Küche und findet die Leiche. Sie denkt, es ist Thomas... und sie schleicht sich einfach ins Bett zurück (nicht ganz unhörbar)
* Etwas später steht Thomas auf, auf der Suche nach Coke gegen den Nachdurst, und stolpert über die Leiche. Er ruft die Polizei.
Ich lehnte mich zufrieden zurück. Im Verlauf der Geschichte sollte er sympathischer werden, und die drei Bedenkenträger unsympathischer (humorlos, schnell beleidigt, kleinkariert).
Gut, Thomas hat die Polizei verständigt. Die Leiche ist notgedrungen Leonard – im Liegen, von hinten, kann man die beiden auch nicht so gut unterscheiden. Schön und gut – aber warum sollte jemand den faden Leonard ermorden?
Ja, das war des Pudels Kern. Der hatte doch nun wirklich niemandem etwas getan. Ich brauchte Motive, reichliche Motive, offenkundige und verborgene. Das einfachste war natürlich, jemand hatte ihn verwechselt und wollte eigentlich Thomas erledigen, der darauf doch ein bisschen erschrocken reagieren könnte.
Ja, gut, aber das reichte absolut nicht. Konnte Johanna an unerwiderter Liebe zu Leonard leiden? Aber wenn alle Frauen die Männer umlegten, die nichts von ihnen wollten...? Hatte sich Leonard als Tierfeind geoutet? Hatte sie ihn nachts mit einer Scheibe Schinken in der Hand am Kühlschrank ertappt? Reichte das aus? In einer WG, in der außer Johanna alle Fleisch aßen?
Konnte er zu Silvia gesagt haben, dass er Frauen in akademischen Berufen ablehnte? Warum sollte er, dazu war er doch gar nicht der Typ?
Verdammt, woher sollte ich jetzt ein Motiv nehmen? Ich sprang auf und wanderte unruhig durch die Wohnung. Wer könnte diesen krummrückigen, komplexbeladenen Spätsoftie umbringen wollen? Hatte er etwas Falsches gesehen/gehört? Aber was?
Und konnte jemand in diese Wohnung rein? Nachts? Lautlos? Wie gut war das Schloss? Hatten Johanna oder Silvia vielleicht kriminelle Freunde? Ja, sonst noch was!
Diese ganze Geschichte war einfach völliger Quatsch, und Kathrin würde mir was erzählen, wenn ich nachher – o Gott, schon fast elf, nur noch drei Stunden, eher zweieinhalb, ich musste mich noch umziehen und hinfahren!
Resigniert druckte ich alles bisher Verbrochene aus, scrollte weiter und beschloss, noch einmal ganz von vorne anzufangen.
Dafür war es jetzt verdammt zu spät, vor allem, wenn man bedachte, dass ich überhaupt keine neue Idee hatte. Also lenkte ich mich damit ab, zu überlegen, was ich anziehen sollte.
Wenn ich schon inkompetent war, wollte ich doch wenigstens nicht so aussehen! Ratlos stand ich vor meinem Kleiderschrank. Ein Kleid? Das sah zu sehr nach Ferien aus und lieferte Kathrin bloß eine Vorlage. Jeans und T-Shirt? Als ob ich nicht nötig hätte, auf die Gepflogenheiten des Verlags Rücksicht zu nehmen – zu kess sollte ich auch nicht drauf sein, wenn ich schon keinen Bestseller in der Tasche hatte.
Ich entschied mich schließlich für das lavendelfarbene Leinenkostüm, halb korrekt, halb lässig (vor allem, wenn man sich auch nur einen Moment darin hingesetzt hatte), und verzichtete auf Strümpfe. Ja, das gab mir das richtige Auftreten! Viel Make-up war glücklicherweise nicht nötig, und die Haare waren schnell durchgebürstet.
Tja, dann sollte ich wohl noch ein bisschen... aber was?
Konnte ich vielleicht einen der alten Entwürfe noch etwas aufhübschen, so, als hätte ich hier noch neue Ideen entwickelt?
Oder... zwei Schwestern, die eine kriegt etwas viel Besseres zu Weihnachten als die andere, und alle alten Ressentiments kommen wieder zum Vorschein. Die hässliche kratzt der schönen (die den Schmuck gekriegt hat) fast die Augen aus, die Eltern müssen die beiden trennen und putzen die hässliche herunter.
Am Abend findet der Freund der Schönen sie tot in ihrem Appartement, und alle denken, die hässliche Schwester war´s...
Ein bisschen Grimms Märchen, überlegte ich und lehnte mich unzufrieden zurück. Aber natürlich war die hässliche es nicht, und so hässlich ist sie gar nicht, findet wenigstens Gärtners neuer Assistent.
Es kommt schließlich raus, dass die Schöne mehrere Männer gleichzeitig hatte, weil sie im Innersten zutiefst unsicher war, und einer kam damit nicht zurecht. Aber nicht der, der sie gefunden hat. Der ist ganz nett und sucht bei der Schwester Trost, aber der Assi ist ihr lieber. Sie blüht richtig auf!
Und die Eltern sind immer noch böse auf sie – nicht schlecht, bis jetzt musste sie dort immer Rasen mähen und so was erledigen, weil die schöne Schwester ja gesellschaftliche Verpflichtungen hatte.
Man könnte was draus machen, überlegte ich, als ich all diese schlampig formulierten Sätze heruntergehackt und gespeichert hatte. Viertel nach zwölf. Essen sollte ich schnell noch was, sonst wurde mir flau, wenn Kathrin mich zusammenpfiff.
Ich druckte die letzten Seiten aus, heftete alles nach Storys sortiert zusammen und steckte es in meine Tasche, dann verdrückte ich rasch zwei Bananen und eine Handvoll Chips. Jetzt war ich doch glatt zu früh fertig – bis zum Verlag waren es knapp zehn Minuten zu Fuß!
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