Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Angenommen, Wolfs waren Juden – dann wäre alles erklärt. Warum sie das Haus verkaufen müssten, warum sie das Land später verlassen mussten, warum die Briefe dann aus Österreich und der Tschechoslowakei kamen und auch warum Hartmut Elsa Wolf nicht leiden konnte.
Was war aus der Familie Wolf später wohl geworden? Hatten sie es geschafft, in ein sicheres Land zu fliehen? Ich glaubte es eher nicht, Elsa war wahrscheinlich in einem Lager gelandet – sonst wäre sie doch zurückgekommen und hätte vielleicht auch ihr Elternhaus zurückgefordert.
Plötzlich war das Ganze nicht mehr spannend, sondern tragisch. So viel wusste sogar ich noch von der Geschichte, um mir ein grässliches, aber leider ziemlich wahrscheinliches Ende für sie und ihre Familie vorstellen zu können – eine Gaskammer in Auschwitz, Majdanek oder wie die Vernichtungslager alle hießen. Eigentlich konnte ich nur noch hoffen, dass als Hauch einer ausgleichenden Gerechtigkeit Hartmut wenigstens im Krieg auf eine scharfe Mine getreten war oder einen ordentlich schmerzhaften Bauchschuss erhalten hatte. Ich hasste ihn, obwohl ich ihn nur aus diesen Dokumenten kannte. Waren die Verkäufer des Hauses wohl alle vor Kriegsende geboren? Der Jüngste auf jeden Fall nicht, der war noch keine Fünfzig. Dann hatte Hartmut den Krieg also überlebt...
Für heute reichte es mir, das war wirklich zu deprimierend. Ich kopierte meine Texte auf eine Diskette und nahm alles mit nach Hause. Mama trieb sich betont zufällig im Flur herum, als ich nach Hause kam.
„Du siehst so betrübt aus? Ist irgendetwas schief gegangen?“
„Nein, unsere Baustellen laufen prima. Aber diese Dokumente machen mich trübsinnig. Ich glaube, die Wolfs sind im KZ geendet.“
„Oh! Holocaust?“
Ich nickte. „Ich habe erst zwei Tagebucheinträge durch, aber es scheint darauf hinauszulaufen. Ich mache nachher vielleicht noch ein bisschen weiter.“
„Iss erstmal was!“
Ach ja, bevor diese Debatte wieder von vorne anfing. Außerdem hatte ich mich heute Morgen ganz leise noch einmal richtig gewogen und kaum noch 48 Kilo gehabt. Das ging wirklich nicht! Ich verputzte also zwei dicke Käsebrote und trank ein Glas Wein dazu, danach verzog ich mich in den Keller und arbeitete noch ein bisschen weiter.
Vier weitere Tagebucheinträge schaffte ich noch, aber sie boten mir wenig neue Informationen. Sie lagen alle noch vor der Machtergreifung und erzählten von der Schule, von Freundinnen, vom doofen Bruder. Ich übertrug sie brav und tippte sie ab, dann nahm ich mir einen Zettel und notierte mir, was ich über die Familien schon wusste.
Wiedemann: Vater und Mutter blieben noch im Dunkel, aber es gab zwei Kinder, Elise (1919 geboren) und Hartmut, die braune Sau, offenbar etwas älter. Hartmut hatte wiederum – nach dem Krieg - drei Kinder, Horst, mit dem ich verhandelt hatte, und noch eine Tochter und einen Sohn. Wo könnte man mehr Details erfahren? Zunächst blieb mir wohl nur mein eigenes Material.
Wolf: Vater und Mutter, Namen und Daten unbekannt, drei Kinder, nämlich zwei Söhne und Elsa, die ebenfalls 1919 geboren war und höchstwahrscheinlich vor 1945 starb. Den Fotos aus dem ältesten Album zufolge waren die Brüder jünger als Elsa... Für heute reichte es, das ganze Wochenende lag ja noch vor mir!
Am Samstag kaufte ich zuerst einmal ein, ich konnte ja schließlich nicht immer auf Mamas Kosten essen. Ich gönnte mir sogar einige Tafeln Schokolade und zeigte sie Mama stolz vor, die zwischen Freude (endlich nahm das dünne Kind zu) und Ärger (Schokolade war ja so ungesund) schwankte. Kichernd verschwand ich mit der Schokolade in meinem Keller und arbeitete weiter. Dort verging mir die gute Laune aber bald wieder.
Tagebuch 1.4.1933
Vor zwei Monaten ist Hitler Reichskanzler geworden, was immer das auch heißen soll. Sogar ich, dumm wie ich bin, habe das mitgekriegt. Bei Wolfs ist die Stimmung nur noch schlecht, Hartmut und Papa strahlen aber den ganzen Tag. Mama sagt nur „Politik ist ein schmutziges Geschäft“. Warum Herr Wolf so betrübt dreinsah, verstand ich nicht, Elsa wollte es mir auch nicht erklären. Vielleicht hatte sie das auch nicht kapiert? Das Haus, in dem Wolfs wohnen, ist wunderschön, wie ein kleines Schloss. Elsas Großeltern haben es gebaut, hat sie mir erzählt, und mir Fotos von ihren Großeltern gezeigt, in einem schönen Album aus echtem Leder. Viel schöner als unsere Pappdinger!
Hartmut grinst wie ein Honigkuchenpferd und sagt dauernd: „Jetzt hörst du hoffentlich endlich auf, dich mit dieser grässlichen Elsa zu treffen. Freunde dich doch mit Margit aus deiner Klasse an, die hat die Zeichen der Zeit verstanden.“
„Margit ist eine blöde Pute“, antwortete ich, „eine Streberin und Langweilerin. Wenn eine schon freiwillig Blockflöte spielt! Und nachmittags hängt sie immer mit diesen Gänsen herum.“
„Mit diesen Gänsen wirst du in Zukunft auch herumhängen, ab jetzt gehst du regelmäßig zu den Jungmädeln, ist das klar?“
„Nie! Wer sagt das überhaupt?“
„Ich sage das!“
„Du, und wer noch?“, fragte ich, denn Hartmut hat mir schließlich gar nichts zu sagen!
Daraufhin hat er mir doch glatt eine geknallt, und als ich heulend zu Mama lief und mich beschwerte, seufzte sie nur und sagte, Hartmut hätte mich nicht schlagen sollen, aber ich muss wirklich zu den Jungmädeln, das ist jetzt irgendwie Vorschrift. Ich sagte, ich gehe dort nur hin, wenn Elsa mitgeht, aber Mama guckte traurig und meinte, Elsa würden sie dort nicht aufnehmen. So ein Mist! Und ich hasse Hartmut mehr als je zuvor.
Ja, genau das war zu erwarten gewesen. Allmählich musste Elise doch auffallen, dass Elsa Jüdin war? Zumindest erhärteten alle meine Informationen diese Hypothese. Ich speicherte diesen Eintrag ab und wählte erst einmal die Nummer von Gabi Zünth. Sie war sogar zu Hause und freute sich, von mir zu hören, sobald ihr wieder einfiel, wer ich war. „Wie wär´s, wenn wir uns mal treffen, zum Ratschen?“, schlug ich vor.
„Ja, gerne! Heute gleich?“
Warum nicht? Ich konnte schließlich nicht das ganze Wochenende an den Dokumenten sitzen, da wurde ich ja trübsinnig! Und so viel konnte ich zu Hause an den anderen Projekten auch nicht arbeiten.
„Gut, sagen wir um halb sieben – und wo? Ich bin noch nicht so lange wieder hier, ich kenne nicht viele Kneipen.“
Am anderen Ende wurde offenbar heftig nachgedacht. „Wie wär´s mit dem Florian ? Oder ist dir das zu teuer?“
„Nein, das ist okay, das kenne ich. Da ist das Essen ziemlich gut, finde ich. Gut, um halb sieben – ich freu mich!“
Sehr gut, dann hatte ich wenigstens heute Abend doch mal etwas vor! Mit frischen Kräften bastelte ich weitere Entwürfe für den Mosaikboden in der Peutingergasse, plante, wie weit wir in der nächsten Woche – Mist, Donnerstag war Feiertag, und Freitag waren dann sicher alle krank, Vatertag oder verlängertes Wochenende – kommen sollten, zeichnete einiges für die Book-Box -Entwürfe und dachte über ein Modell nach. Sollten wir das selbst basteln oder einem Modellservice übergeben? Die schossen jetzt ja wie die Pilze aus dem Boden und würden uns viel Zeit sparen. Ich notierte mir, dass ich Simon danach fragen musste.
Mittags kochte ich heute, damit Mama auch mal frei hatte. Das Fischgratin schmeckte ihr offenbar, jedenfalls nahm sie sich zweimal.
„Ich wusste gar nicht, dass du kochen kannst“, frotzelte sie, als sie die Form auskratzte.
„Ich kann schon, aber ich tu´s selten. Auch in Berlin war ich meist erst gegen sieben daheim, da hatte ich für große Aktionen keine Energie mehr. Aber es wird dich freuen, dass ich heute Abend mit einer ehemaligen Mitschülerin verabredet bin, zum Tratschen.“
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