Was machte ich hier eigentlich? Ich verachtete meine KlassenkameradInnen, weil sie nicht verheiratet waren? Als ob ich einen Kerl vorzuweisen hätte! Und überhaupt – wer sagte schließlich, dass Verheiratetsein etwas Gutes war? Ich musste offenbar dringend ins Bett.
Den Freitag handelten wir etwas kürzer ab. Ich nervte im Vorübergehen die Arbeiter am Pavillon, die noch mit dem Gießen der Kellerdecke beschäftigt waren, und holte den nächsten Schwung Fotos ab, Simon besorgte uns die Unterlagen für den Wettbewerb, was die Book-Box -Baulücke betraf, wir bastelten ein bisschen an den Treppenhausentwürfen herum, wobei Simon ein viel schönerer Entwurf für das Fußbodenmosaik gelang, und ich erzählte von meinen Funden.
„Ist ganz interessant. Aber denk dran, wir haben noch mehr Projekte, verzettele nicht zuviel Zeit damit, die Vergangenheit des Hauses zu erforschen. Ja, wenn du etwas über die Originaleinrichtung herausfinden könntest, das wäre nützlich!“
„Hab ich bis jetzt meine Arbeit vernachlässigt?“, giftete ich quer über den Flur. „Ich mache das auf jeden Fall in meiner Freizeit, und da kann ich ja wohl machen, was ich will, oder?“
Er zuckte die Schultern. „Wenn´s dir Spaß macht. Hast du am Wochenende nichts Besseres vor?“
„Doch, klar, ich treffe mich mit jeder Menge alter Freunde!“
„Schön für dich. Viel Spaß dabei.“
Verstand er keine Ironie? Ich schnaubte. „Sag mal, macht es dir nichts, wenn ich jetzt schon gehe? Ich hab für die Zweiuhrmaschine gebucht.“
„Nein, hau schon ab. Grüß Berlin von mir! Und amüsier dich gut!“
Er warf mir einen misstrauischen Blick zu und griff nach seiner Reisetasche. „Hoffentlich bist du am Montag wieder besser drauf!“
„Was soll das heißen?“ Er stand schon in der Tür. „Na, zwei Tage Familie helfen dir vielleicht, deine Batterien aufzuladen. Gute Erholung!“ Seine Finger schlossen sich so fest um den Griff seiner Tasche, dass die Knöchel weiß hervortraten. Hatte ich etwas Falsches gesagt?
„Danke. Bis Montag.“
Nein, offenbar doch nicht. Ach, warum sollte ich mir über Simon den Kopf zerbrechen! Der lag in einigen Stunden schon mit seiner Tanja im Bett. Was hatte ich eigentlich in den letzten Tagen? Hohn und Spott für die Singles aus meinem Abiturjahrgang, Neid auf Simon, der wenigstens am Wochenende verheiratet war – hatten Mamas Tiraden mich vergiftet? Ich wollte doch gar keinen Mann. Höchstens mal was Nettes fürs Bett, ein Pausenhäppchen. Für mehr blieb doch gar keine Zeit! Vielleicht waren das verspätete Frühlingsgefühle – aber jetzt? In zwei Wochen war Pfingsten!
Auf jeden Fall sollte ich morgen mal Gabi Zünth anrufen.
Ich schickte Doris nach Hause – Am Freitagnachmittag passierte ja doch nicht mehr viel, und zur Not wurde ich mit irgendwelchen Problemen auch alleine fertig.
Dann schloss ich meine Schublade auf und legte die Dokumente vor mich hin. Ich beschloss, solange sonst nichts los war, das Tagebuch und die Briefe zu transkribieren, sofern es mir gelang.
Tagebuch 21.7.1932
Heute bin ich dreizehn geworden, aber ich fühle mich gar nicht so. Der Tag war aber sehr schön. In der Schule durfte ich mir ein Lied wünschen, aber Fräulein Schmetterer zog ein Gesicht, als ich „Ausgerechnet Bananen“ bestellte. Das ist vielleicht schon etwas zu alt?
Mittags bekam ich meine Geschenke, von Papa ein goldenes Kettchen mit einem Glücksklee daran, von Mama ein Paar sehr schicke Schuhe, von Hartmut ein ziemlich blödes Buch über die ollen Germanen. Wen interessiert das, die sind doch schon lange ausgestorben!
Zum Kaffee kamen meine besten Freundinnen und wir waren sehr vergnügt. Elsa schenkte mir heimlich einen Roman von Vicky Baum (Mama darf das auf keinen Fall entdecken, bevor ich es ausgelesen habe!), Susanna ein kleines Fläschchen Parfüm und Lenore ein Armband, das sie selbst gebastelt hatte. Ich freute mich sehr. Dreizehn... Jetzt bin ich die Älteste, als nächste hat Lenore Geburtstag, dann Elsa, und erst nach den Sommerferien ist Susanna dran. Wie wir uns wohl in einem Jahr fühlen werden? Oder in zehn Jahren? Ich werde auf jeden Fall jung heiraten und viele Kinder kriegen. Elsa will ja lieber Mathematik studieren. Wie kann man nur! Und dabei ist sie viel hübscher als ich! Ich fände es toll, wenn sie Hartmut heiraten könnte, aber er mag sie nicht und ist immer ziemlich unhöflich zu ihr. Er will mir aber nicht sagen, warum. Vielleicht zieht er Blondinen vor? Aber er selbst hat doch auch dunkle Haare? Ach, Hartmut ist einfach ein Blödmann!
Ich grinste, als ich den letzten Satz tippte und alles speicherte. Geschwister waren also auch anno 1932 schon eine rechte Plage gewesen. Hartmut schien mir aber abgesehen von seinem offenkundigen Gehabe als großer Bruder auch sonst ein unangenehmer Typ gewesen zu sein. Germanen! Das passte ja zu seiner späteren Entwicklung zum SS-Offizier. Traurig, dass sich Elises Pläne nicht erfüllt hatten, aber vielleicht hatte sie es sich ja später anders überlegt.
Was hatte ich mir mit dreizehn vom Leben erwartet? Wollte ich damals immer noch einen Ponyhof gründen? Wenn ich mich recht erinnerte, hatte ich diese Phase – hervorgerufen durch intensive Lektüre von Lise-Gast-Romanen – gerade überwunden. Mir schwebte so etwa der Beruf des Camel-Manns vor, wie er zu dieser Zeit in der Kino-Werbung auftrat. Ich hatte mich nur hinter meinem Popcorn gefragt, warum er nach so anstrengendem Weg nicht gleich eine Stange holte statt immer nur ein einzelnes Päckchen. Genau, Abenteuerreisen standen damals ganz oben auf meinem Lebensplan. Und was war daraus geworden? Ab und zu eine Woche Adria und eine Studienfahrt nach London. Vielleicht war es Elise ähnlich ergangen, aber irgendwie glaubte ich das nicht. Vielleicht erhellten spätere Einträge das Rätsel? Ich schlug das Buch hinten auf. Toll, sie hatte das Tagebuch – in zunehmend winzigerer Schrift – bis 1948 geführt.
Tagebuch 5.8.1932
„Menschen im Hotel“ ist ein faszinierendes Buch, und ich habe es geschafft, es auszulesen, ohne dass Mama es gemerkt hat. Ich bin Elsa wirklich sehr dankbar dafür. Manches habe ich nicht ganz verstanden, aber von der Liebe verstehen wir ja noch nichts. Auch wie das mit dem Kinderkriegen so läuft, weiß ich nicht. Elsa hat es auch nicht verstanden, als ihre Mutter ihr ein bisschen was erklärt hat. Lenore behauptet, sie wüsste alles, aber sie will es uns nicht erzählen. Wahrscheinlich gibt sie nur an. Na, wenn wir alt genug sind, kriegen wir das schon raus.
Gut, dass gerade Ferien sind! Nächste Woche fahren wir nach Bad Reichenhall, zur Sommerfrische. Elsa und ich haben uns versprochen, uns täglich eine Karte zu schicken. Sie ist seit einer Woche an der Riviera und ich habe schon vier Karten bekommen, vor allem mit Palmen drauf. Vielleicht trifft sie dort einen russischen Großfürsten? Die soll es dort stapelweise geben, aber ich weiß nicht, warum. Sollten die nicht in Russland sein?
Ach, ich glaube manchmal, ich bin dumm. Dann nehme ich mir vor, die Zeitung zu lesen, aber ich muss immer so viel fragen, dass Papa sagt, ich bin noch zu jung dafür, und Hartmut meint, Frauen sollten sich mit so etwas gar nicht befassen, zum Kinderkriegen bräuchten wir das nicht. „Das Weltgeschehen“ (so hochgestochen quatscht er daher!) machten ja ohnehin die Männer. Blöder Heini!
Ja, wirklich! Hartmut war mir von Herzen unsympathisch. Ich freute mich mit Elise, dass sie das verbotene Buch hatte lesen können, und überlegte, dass die Wolfs wohl erheblich wohlhabender waren als die Wiedemanns, wenn die Wahl des Urlaubsziels dafür ein Indiz war. Hatte der Arzt nicht gesagt, dass die Wolfs 1936 nach Österreich gezogen waren? Hatten sie damals das Haus an die Wiedemanns verkauft? Warum?
Читать дальше