Auf ein Neues! Dieses Mal erwischte ich das Papier und zog es vorsichtig heraus. Es war ein ganzer Packen, mit einem blassen Stoffbändchen – ehemals rosa? Nicht mehr zu erkennen – verschnürt. Sehr interessant! Aber darunter war noch etwas. Ich tastete behutsam herum, nicht dass ich wieder an den Nagel geriet, und fühlte Pappe, jedenfalls etwas Festeres als Papier. Mühsam praktizierte ich es nach draußen. Eine Art Buch... Ich steckte alles in eine Plastiktüte und dann in meine Tasche und verließ den Keller wieder.
Hambacher und alle anderen versicherten mir, heute müssten sie nicht mehr in den Luftschutzkeller, also konnte ich die Unordnung so liegen lassen und verschwinden. Zwei Ecken weiter hatte ich einen Allgemeinarzt gesehen, der sogar noch Sprechstunde hatte.
Er reinigte die Wunde, die ziemlich lächerlich aussah, pflichtete mir aber bei, dass man mit Tetanus nicht vorsichtig genug sein konnte, und verpasste mir eine Spritze. Ich versprach, bei Gelegenheit meinen Impfpass vorbeizubringen.
„Wo haben Sie sich das denn geholt? Sie sehen aus, als seien Sie durch eine Höhle gekrochen.“
„So ähnlich“, gab ich zu, „wir renovieren gerade ein Haus in der Galileistraße, und der Keller ist dermaßen siffig, na, kein Wunder.“
Der Arzt, ein älterer Herr, setzte sich gemütlich zurecht. Offenbar war ich die letzte Patientin vor der Mittagspause gewesen. „Die Wiedemanns renovieren? Sie meinen doch das Schlösschen?“
„Schlösschen? Sehr passend! Aber die Wiedemanns haben verkauft.“
„Das war zu erwarten. Hartmuts Kinder konnten die alte Elise ja noch nie leiden. Vielleicht war´s das schlechte Gewissen, wer weiß...“ Ich sah ihn freundlich interessiert an, hütete mich aber, seine Erinnerungen zu unterbrechen. Dann fiele ihm ja doch nur seine Schweigepflicht ein!
„Hartmut war ein blöder Hund. Meine Eltern kannten die Familie ein bisschen. Er war wirklich ein Hundertzehnprozentiger, und wie er die Elise gequält hat, wegen ihres Joachim und auch wegen der armen Elsa Wolf...“
Elsa Wolf! Aha, wenigstens ein Name.
„Was aus den Wolfs wohl geworden ist, nach sechsunddreißig? Ich glaube, sie gingen nach Österreich...“
Er tauchte aus seinen Erinnerungen wieder auf. „Aber das kann Sie ja alles gar nicht interessieren. Ich schreibe Ihnen hier ein Flüssigdesinfektionsmittel auf, das kann Ihnen bei solchen Bagatellverletzungen gute Dienste leisten. Lassen Sie sich nächste Woche noch einmal anschauen, ja? In der Rubensstraße ist eine Apotheke.“
Ich bedankte mich, leicht verärgert, dass seine Erinnerungen so früh abgebrochen waren, besorgte mir das Wundspray und fuhr – mit Hamburgern für alle – ins Büro zurück. Frau Knaur freute sich über ihren Hamburger, Simon war gar nicht da. Ich legte ihm das lauwarme Ding auf den Schreibtisch und kehrte ins Sekretariat zurück.
„War was los, Frau Knaur?“
„Ein Bote hat Fotos von der Peutingergasse gebracht. Hier, ich habe auch schon einen Ordner angelegt!“
„Danke. Sie sind wirklich ein Schatz, Frau Knaur. Ach, sagen wir uns doch du, ja? Ich heiße Barbara.“
„Doris. Danke, gern. Brauchst du mich in der nächsten Stunde?“
„Nein, stell mir nur das Telefon durch, ja? Schöne Mittagspause!“
Ich hatte eine reiche Ausbeute – die Fotos des Jugendstileingangs, meine eigenen Fotos und meine Funde aus dem Keller. Ich bezähmte mich mühsam und betrachtete zunächst die Peutingergasse. Ah ja – toll waren sie nicht, aber man konnte erkennen, wie der Hausflur einmal ausgesehen hatte. Ich vergrößerte die Fotos auf DIN A 3, noch grobkörniger wäre kontraproduktiv gewesen, und malte die Ornamente bunt an, um ihre Strukturen zu erkennen.
Es würde schwierig, diese Ornamente wieder anzubringen und sie farblich abzusetzen. Man müsste sozusagen Gipsabdrücke machen und die übermalen, damit sie nicht mehr so neu wirkten. Welche Farben? Und einen passenden Kronleuchter, mit dem aber der Hausmeister zurechtkommen musste. Die Treppe konnte so bleiben, dort hatte man den eleganten Schwung des Geländers glücklicherweise nicht beseitigt. Bodenbelag? Am besten ein Mosaik, wenigstens am Rand, kleine florale Elemente... Ich nahm mir einen Bogen Karopapier und begann zu basteln. Weiß und grün, in der Mitte Marmor. Die Wände ebenfalls weiß, mit verschiedenen Grüntönen und etwas Silber abgesetzt. Die Lampe konnte auch eine Art Laterne sein, weißlackiertes Eisen...
Ich merkte, dass sich meine Gedanken im Kreis zu drehen begannen, und legte dieses Projekt beiseite. Sollte ich weiter tugendhaft sein oder meinen Fund inspizieren? Scheiß auf die Tugend! Ich holte mir die Dose mit den teuren Computerputztüchern - die trockneten ohnehin immer so schnell aus, dass ich sie ruhig verschwenden konnte, fand ich. Zuerst säuberte ich das Buch, das sich als ledergebundenes Tagebuch entpuppte, dann knüpfte ich das Bändchen auf und nahm das Bündel auseinander. Briefe, lauter Briefe – und alle in schönstem Sütterlin!
Ich holte mir einen Ordner und einen Stapel Klarsichthüllen und begann damit, die Briefe vorsichtig zu ordnen und einzeln in die Hüllen zu stecken, auch die Umschläge extra.
Die Briefe waren datiert, vom August 1936 bis zum Oktober 1938, auf den Umschlägen standen aber, obwohl es immer die gleiche Handschrift war, lauter verschiedene Absender, zunächst von hier, dann aus Salzburg, schließlich aus Prag. Danach nichts mehr.
Das Tagebuch wies eine andere Handschrift auf, aber natürlich auch Sütterlin. Es begann 1932 mit den Worten Heute bin ich dreizehn geworden . Den Rest konnte ich schon wieder nicht mehr lesen, Mist! War das Elises Tagebuch? Dann war sie 1919 geboren und immerhin achtzig Jahre alt geworden. Oder stammte das Tagebuch von Elsa? Und warum diese Reisen? Das war doch alles noch vor dem Zweiten Weltkrieg? Ich sollte mir jemanden suchen, der im Gegensatz zu mir nicht in Geschichte Schiffe versenken gespielt hatte, am besten einen Historiker, und ihn um den geschichtlichen Hintergrund bitten. Zwar hatte ich das dumpfe Gefühl, dass ich eine ganz einfache Erklärung für all das kannte, aber ich kam nicht drauf.
Und Mama musste mir Sütterlin beibringen, ich konnte sie ja nicht die ganzen Briefe und das Tagebuch entziffern lassen! Doris war längst wieder zurück, als ich das Material in den abschließbaren Teil meines Schreibtisches sperrte und mich wieder unseren Projekten zuwandte. Außerdem musste ich noch die Fotos sichten, die ich heute abgeholt hatte. Gegen drei tauchte Simon wieder auf, mit einer Digitalkamera, die er schon eifrig benutzt hatte. Wir verbrachten einige hektische Stunden damit, die Fotobearbeitungssoftware zu installieren und seine Fotos auf den Rechner zu überspielen und auszudrucken. Schließlich sahen wir uns stolz an, als die ersten Bilder, im Formal DIN A 4, aus dem Drucker glitten.
„Wir sind ja gar nicht so blöde, oder? Wie haben wir das hingekriegt?“
„Toll“, fand Simon und zog das erste Bild heran. Als wir alles ausgebreitet hatten, verließ uns aber die Lust darauf, heute Abend noch einen ersten Entwurf zu machen. Es war sieben Uhr durch, das reichte ja wohl. Simon wirkte etwas gequält, wahrscheinlich war er müde und vermisste seine Tanja.
„Nur noch einen Tag durchhalten, Simon, morgen ist doch schon Freitag! Übrigens, wenn du freitags früher Schluss machen willst, damit du eine frühere Maschine kriegst, musst du es nur sagen!“
„Was?“ Er sah mich mit einem irritierten Blick an. Dann entspannten sich seine Züge wieder.
„Ja, danke. Vielleicht komme ich darauf zurück. Bis morgen.“
Er war weg, bevor ich ihn fragen konnte, ob wir etwas essen gehen wollten. Denn nicht, liebe Tante! Warum war er zurzeit so stoffelig? Bereute er, dass er Berlin verlassen hatte? Belastete ihn diese Wochenendehe?
Ich fuhr heim, aß eine Handvoll Kartoffelchips, trotz Mamas Protest („Kind, soll ich dir nicht schnell etwas Richtiges machen, du wirst immer dünner“) und zerrte sie dann an den Esstisch.
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