„Mama, ich brauche schon wieder deine Hilfe. Du musst mir zeigen, wie man Sütterlin liest und schreibt.“
„Ich kann es dir doch auch vorlesen!“
„Dazu ist es zu viel.“
„Ha – du hast noch etwas gefunden! Was ist es?“ Also daher stammte meine Begeisterung für Geheimfächer: einfach genetisch bedingt!
„Kannst du schweigen?“
„Klar!“ Mama sah mich großäugig an, wie ein Kind.
„Wirklich! Ich will nicht, dass das bekannt wird, bevor ich nicht alles weiß.“
„Du klingst wie das letzte Mordopfer in jedem zweiten Krimi, du weißt schon, der, der schlauer ist als die Polizei und sein Wissen zu lange für sich behält, so dass der Mörder ihn mundtot machen muss.“
„Und du liest zu viele Krimis. Es geht doch gar nicht um ein Verbrechen.“
„Wer weiß? Wenn ein Nazi mit drinsteckt?“
„Ach, du weißt schon, was ich meine. Auf jeden Fall hab ich ein Tagebuch und einen Stapel alte Briefe gefunden und die möchte ich jetzt lesen. Und da, wo ich sie gefunden habe, stand auch ein rostiger Nagel heraus.“
Ich zeigte meine Hand vor. Das Ablenkungsmanöver funktionierte, Mama kreischte entsetzt auf. „Babsi, das muss ordentlich gesäubert werden. Und wie lange gilt deine Tetanus-Impfung eigentlich noch? Gleich morgen früh gehst du zum Arzt!“
„Da war ich heute schon, ich bin frisch geimpft und desinfiziert“, beruhigte ich sie. Unangenehmer Nebeneffekt: Der Fund fiel ihr wieder ein. „Lass, Mama, wenn ich etwas Interessantes herausfinde, erzähle ich es dir, ja? Jetzt zeig mir erst einmal, wie die einzelnen Buchstaben aussehen!“
„Wenn du mir die Briefe zeigst?“
„Die hab ich im Büro. Komm, jetzt zier dich nicht so!“
Mama gab sich geschlagen und malte mir alle Buchstaben auf. Dann musste ich lesen, was sie schrieb, und schließlich nach ihrem Diktat einiges selbst schreiben. Es sah etwas krakelig aus, war aber erkennbar.
„Das ist alles? Und dafür habt ihr in der Grundschule ein ganzes Schuljahr gebraucht?“
„Volksschule hieß das damals noch, Volksschule! Und du bist ganz schön frech. So, und jetzt gehst du ins Bad und stellst dich auf die Waage, los!“
Ich zog ein Gesicht, aber Sträuben nützte nichts. Wenigstens ging sie nicht mit, um neben mir auf die Anzeige zu starren. Neunundvierzig Kilo. Huch, das war wirklich nicht viel, immerhin war ich fast einen Meter siebzig groß, genauer gesagt 1.68. Ich zählte im Geist fünf Kilo dazu, ignorierte die Tatsache, dass ich einige Klamotten anhatte und es Abend war, und behauptete frech, vierundfünfzig Kilo zu wiegen. Mama flippte trotzdem aus.
„Kind, du wirst bald magersüchtig! Das ist doch viel zu wenig! Ab jetzt wird morgens ordentlich gefrühstückt!“
„Gut, ich kaufe mir auf dem Weg ins Büro statt einem zwei Plunderteilchen, ja?“
„Wie kann man so dünn sein, wenn man sich nur von solchem Mist ernährt? Du solltest mehr Obst und Gemüse - “
„Mama, willst du mir eine Diät empfehlen? Von Obst und Gemüse lege ich bestimmt nicht zu.“ Ich grinste vergnügt vor mich hin, mich störte mein geringes Gewicht bestimmt nicht.
„Aber woher kann das nur kommen?“
„Vielleicht habe ich einen Bandwurm“, schlug ich vor, aber das hätte ich besser gelassen, denn Mama war drauf und dran, mich gleich morgen früh zum Arzt zu jagen, um diesen Bandwurm entfernen zu lassen.
„Ach, Mama, das war ein Witz! Vielen Dank für den Unterricht, und jetzt gehe ich unter die Dusche und dann ins Bett, noch ein bisschen in der Abizeitung lesen.“
„Na gut, Babsi – aber du musst wirklich mehr essen!“
Ich winkte ihr zu, ohne das noch einer Antwort zu würdigen, und verschwand im Keller. Herrlich, so eine ausgiebige heiße Dusche! Leider gab es in diesem popligen Gästebad keinen anständigen Spiegel, so dass ich meine Figur nur portionsweise begutachten konnte. Ging doch, fand ich. Viel Busen hatte ich noch nie gehabt, und was nicht da war, konnte auch nicht hängen – alte Binsenweisheit, die Schwerkraft hing schließlich von der angezogenen Masse ab. Gut, wenn ich den Bauch auch nur ein bisschen einzog, konnte ich meine Rippen zählen, und auf dem Rücken (ich nahm einen Handspiegel zu Hilfe) sah man jeden Wirbel und die hervorstehenden Schulterblätter. Hervorstehende Hüftknochen waren etwas Gutes, hervorstehende Rückenwirbel nicht. Ich ballte die Faust und winkelte den Arm an. Muskeln hatte ich, kein Wunder, wenn man dauernd etwas herumschleppen musste! Insgesamt stellte ich fest, ich musste wirklich ein paar Kilo zunehmen, auch damit meine frisch gewaschenen Jeans wieder passten – es hatte nicht nur an ihrem ausgeleierten Zustand gelegen. Ich nahm mir vor, morgen früh ganz leise noch mal auf die Waage zu schleichen.
Jetzt cremte ich mich erst einmal sorgfältig ein, zog ein Sleepshirt über und verzog mich ins Bett. An wen konnte ich mich überhaupt noch erinnern von unserem Jahrgang?
Anette – die wollte doch Gynäkologin werden? Sie war immer furchtbar ernsthaft und streberhaft gewesen; sie spielte nicht Schiffe versenken in den Geschichtsstunden. Dieser öde Grundkurs! Da kam mir eine gute Idee – ich kreuzte alle an, die Geschichte Leistungskurs genommen hatten. Mit Mathe und Wirtschaft war ich damals ziemlich aus dem Rahmen gefallen, dazu noch Französisch und Kunst.
An Nora konnte ich mich noch vage erinnern. Die hatte ziemlich gesponnen. Hatte sie nicht irgendwo auf dem platten Land gewohnt, mit haufenweise Pferden und damit immer angegeben? Und wenn ich mich recht erinnerte, war sie in Geschichte die totale Null gewesen, sie hatte das doch nur wegen des feschen Mathias gewählt.
Mathias – in den waren fast alle Mädchen verschossen gewesen. Ich schlug seine Charakteristik auf und betrachtete das Foto. Naja, der Traum einer Achtzehnjährigen! Heute würde er mich kalt lassen, wenn er immer noch so aussah. Vielleicht war er natürlich auch stilvoll gereift?
Ich stieg wieder aus dem Bett und warf meinen Rechner an. Gut, dass ich mir gleich die neue Telefonbuch-CD geholt hatte; installieren musste ich sie freilich noch.
Also: Gabi Zünth wohnte immer noch unter der gleichen Adresse. Eigentlich bedauernswert. Dabei fiel mir ein, dass ich auch genau da wohnte, wo ich zur Zeit des Abiturs gewohnt hatte. Peinlich?
Nora wohnte in der Altstadt, offensichtlich alleine, kein Mitbewohner, keine Namensänderung. Der schöne Mathias hatte damals wohl nicht angebissen?
Der wiederum wohnte in der Nähe des Autobahnkreuzes West. Recht miese Gegend - war das ein ideologisches Statement oder hatte er es zu nichts gebracht?
Alexander war auch im Geschichts-LK gewesen, der Trauerkloß. Der hatte sich offensichtlich für eine Wiedergeburt von Lord Byron gehalten – schön und melancholisch. Uninteressant. So, wie er aussah, war er heute Schauspieler in einer Seifenoper und wusste keine einzige Jahreszahl mehr. Besser war ich ja eigentlich auch nicht, musste ich zugeben. Allerdings wohnte er nicht weit von meiner Villa entfernt.
Sabine fand ich nicht im Telefonbuch. Aber sie hatte doch Rüschenberger geheißen? Die Eltern waren hier auch nicht mehr gemeldet. Sie war doch immer mit Peter Hofmann zusammen gewesen… Ich probierte es mit Hofmann-Rüschenberger: tatsächlich! Wie konnte man sich nur einen derartigen Doppelnamen zulegen? Der passte doch in kein Formular, und wenn man an der Kasse eine ec-Quittung unterschrieb, hielt man den ganzen Betrieb auf.
Karen, das Kleinkind. Stimmte ja, die hatten wir immer verarscht, weil sie nie schwänzen konnte. Sie war die ganze Kollegstufe hindurch noch nicht volljährig gewesen. Eigentlich arm dran, wenn man es so recht überlegte. Ich klickte in die CD. Tizianstraße, auch nicht weit weg, und offenbar auch noch solo. Hatte sie nicht immer einen braven Zopf getragen, oder einen Knoten? Na, dann war es ja kein Wunder!
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