„Ja Alfred“, begann der arme Freund mit leiser Stimme, „es ist anders gekommen als ich hoffte, meine Illusionen sind zu Ende; ach du ahnst nicht die Qual, den reuigen Schmerz, der in meinem Herzen wühlt. Mein Leben ist verfehlt. Glaube nicht, dass mich nur der Besitz des Goldes reizte, ich wollte mein Ziel nur rascher erreichen, aber die teuflischen Menschen haben mir alles, alles entrissen.
Ich war der einzige unter meinen Genossen, der das fluchwürdige Metall gefunden; aber der Wert meines Fundes war zu groß, er reizte die Gier bestialischer Menschen, die mich beraubten und lebensgefährlich verwundeten. Vier Tage lag ich hilflos in der Wildnis; zurückkehrende Abenteurer beförderten mich nach Melbourne, dort habe ich monatelang ein erbärmliches Leben gefristet, ich war ja zu schwach, um arbeiten zu können. Mit der letzten Energie raffte ich mich noch einmal empor, schon hatte ich den Lebensweg wieder gefunden, da ereilte mich die unheilvolle Krankheit, ich fühle, dass ich meine Eltern, meine Heimat, alles woran mein Herz hängt, nicht wiedersehen werde. – Ich danke dem Himmel, dass ich dich noch einmal schauen -, dich bitten kann, mir zu verzeihen. Ohne dein Wissen bin ich damals von der WINTERTHUR entflohen, ich wusste ja, dass du meine Absicht vereitelt, mich zurückgehalten hättest von dem Bestreben, das mir mein Schicksal gebot. Umarme noch einmal deinen unglücklichen Freund; ich möchte deiner Verzeihung gewiss sein, sie erleichtert mir den letzten Schmerz.“
Tief bewegt verließ ich das Hospital. Trotz meiner späteren Bemühungen habe ich nie etwas von meinem Freunde erfahren. Gott weiß, was aus dem vorzüglichen Menschen geworden ist! –
Immerhin hat Melbourne diesem wahnsinnigen Goldfieber sein rasches Emporblühen zu verdanken. Seine damals aus Zelten und Bretterbuden bestehenden Behausungen verschwanden von der Oberfläche, an deren Stelle entstanden Prachtbauten, welche den Vergleich mit denen der europäischen Großstädte nicht zu scheuen brauchen. Der Handel, durch eine Menge von Segel- und Dampfschiffen, durch Eisenbahnen und Telegrafen kräftig unterstützt, erhob Melbourne nach kaum zehnjähriger Entwicklung zu einer Weltstadt ersten Ranges. –
Mein pflichtgetreues Ausharren an Bord der WINTERTHUR wurde vom dankbaren Kapitän gebührend anerkannt. Nicht nur, dass ich sofort zum Vollmatrosen und gelegentlichen Untersteuermann befördert wurde, ich genoss auch während der ganzen Fahrt eine angenehme Sonderstellung gegen die aufs Neue verpflichtete, aus allen Nationen zusammengewürfelte Mannschaft.
Nachdem nun unsere Ladung gelöscht und Ballast eingenommen war, gingen wir abermals unter Segel und nahmen Kurs auf Kalkutta. Die Disziplin unter unserer eigenartigen Besatzung war selbstverständlich eine sehr lockere. Nach Lage der Sache schien es geraten, manches zu dulden, was unter gewöhnlichen Verhältnissen strenge Bestrafung nach sich gezogen hätte.
Die Einförmigkeit der Reise wurde täglich, wenn auch auf keine besonders anziehende Weise, von den rauflustigen Leuten unterbrochen. Allerlei übermütige Streiche, welchen dann mit mathematischer Genauigkeit eine gemütliche Prügelei folgte, waren an der Tagesordnung. Zum Glück für die nur noch wenigen gesunden Gliedmaßen unserer streitsüchtigen Mannschaft erreichten wir sehr bald unseren neuen Bestimmungsort Kalkutta. Hier wurde unser Schiff ins Trockendock geschleppt und neu gekupfert. Während dieser vierwöchigen Ruhezeit befanden wir uns einem jener zahlreichen Verbrennungsplätze gegenüber, auf welchen die Körper der verstorbenen Hindus auf Feuersglut in Asche verwandelt werden...
Nach beendeter, ziemlich kostspieliger Reparatur unseres Schiffes erhielten wir eine volle Ladung Zucker und Jute für London...
Im Hafen von London wechselte die WINTERTHUR ihren Besitzer und fuhr von diesem Augenblicke an unter englischer Flagge. Mein kontraktliches Verhältnis mit dem Kapitän wurde dadurch gelöst. Als Passagier eines Dampfschiffes erreichte ich wenige Tage später wieder einmal die wohlbekannten Gestade meiner teuren Heimat. –

Alfred Tetens, der Nautiker
Mein ungestümer Hang zur Seefahrt hatte durch meine bisherige seemännische Tätigkeit wohl eine gewisse Befriedigung gefunden, und meine Anschauungen waren jetzt von allem phantastischen Ballast befreit. Klar und deutlich lag mein Lebensweg vor mir. Es bedurfte nicht des väterlichen Ausspruchs: Junge sei vernünftig! Was man sein will, muss man ganz sein! Nur zu klar hatte ich bereits erkannt, dass es unmöglich sei, ohne wissenschaftliches Studium das mir gesteckte Ziel zu erreichen. Die physische Kraft, die tüchtigste Praxis ist der durch Forschertrieb immer mehr ausgebildeten Theorie unterstellt und nur, wo sie beide Hand in Hand gehen, ist ein gedeihliches Wirken möglich.
Als Reeder würde ich mein Schiff niemals einem Kapitän anvertrauen, der nicht im Stande wäre, auch die unbedeutendsten praktischen Arbeiten an Bord selbst auszuführen. Glücklicherweisen hält ja unsere sich täglich mehr entwickelnde Seemannsausbildung an dieser Grundidee fest. Die segensreichste Ernte wird dieser Aussaat folgen. Sie wird den guten Ruf, den sich der deutsche Seemann vermöge seiner vortrefflichen Charakteranlagen bei allen Schifffahrt treibenden Völkern der Erde langsam und mühevoll erworben, immer mehr befestigen und stärken.
Während eines Jahres besuchte ich nun die Navigationsschule in Altona. Sehr bald gewann ich das anfangs trocken erscheinende Studium lieb. Je weiter sich mein Blick erschloss, desto größer wurde meine Wissbegierde. Übrigens galt es während dieses Zeitraumes sehr vieles zu erlernen, und wenn ich hier die hauptsächlichsten Gegenstände anführe, so geschieht es nur, um dem eingeweihten Leser manches fernere Vorkommnis anschaulicher darstellen zu können. Die unter dem Vorsitz eines höheren dänischen Marineoffiziers gebildete Prüfungskommission begann am 4. Dezember 1855 ihre Examina über:
Kenntnis aller Zirkel, die man sich auf der Himmelskugel denkt; von der eigenen Bewegung des Mondes und der Planeten, von dem Zusammenhange zwischen der Uhrzeit und der Länge auf der Erde; von der wahren Sonnenzeit, Mittelzeit und der Zeitgleichung; von der Einrichtung des Nautical-Almanachs und der Planet-Tabellen. Vollständige Kenntnis der Art und Weise, wie der Sextant zu untersuchen und zu berichtigen ist und Fertigkeit, mit demselben Winkel zwischen zwei Gegenständen zu messen. Kenntnis der wichtigsten Sternbilder und Fähigkeit, die zu den Distanz-Observationen dienlichen Sterne am Himmel zu finden. Die Höhe eines Himmelskörpers zu einer gegebenen Zeit zu berechnen. Fähigkeit, die Uhrzeit mittelst Höhe der Sonne oder eines Sternes zu berechnen.
Fähigkeit, den Gang der Seeuhr zu untersuchen, sowohl auf dem Lande durch künstlichen Horizont, als auf einer Reise durch Peilung von Punkten, deren Länge genau bestimmt ist; Kenntnis der Behandlung der Seeuhr und durch dieselbe die Uhrzeit in Greenwich zu finden. Fähigkeit, die Uhrzeit in Greenwich aus der gemessenen Distanz zwischen dem Monde und der Sonne oder zwischen dem Monde und einem Sterne oder Planeten zu berechnen, wenn die Höhen zugleich gemessen sind. Fähigkeit, die Länge und Breite zu finden.
Ich könnte noch weitere hierher gehörende nautische Prüfungsgegenstände aufzählen, aber ich fürchte, vor allem die Geduld des geehrten Lesers zu erschöpfen, und solchen unverzeihlichen „Observationsfehler“ möchte ich gar zu gerne vermeiden.
Wenn sich auch die Nautik seit jener Zeit wesentlich entwickelt und manches aus unserem Systeme verworfen hat, so möge doch kein moderner Seefahrer beim Lesen dieser Zeilen die Nase rümpfen oder mitleidig lächeln. Er darf sich mit der Versicherung begnügen, dass wir schon damals sehr genau jeden Seeweg zu verfolgen im Stande waren, niemals unser Ziel verfehlten und wie der heimatliche Volksmund so verständnisvoll ausdrückt: „Keenen Buern in de Finster loopen sünd.“
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