Es waren keine schönen Arbeitsumstände, aber die Paranoia der Zentralregierung hatte sich hier so richtig ausgetobt.
Noch nie sind Informationen von hier nach außen gelangt, und es wurde alles getan, das auch weiterhin zu verhindern.
Wu-Shi, der Leiter des Projektes „Mondgeheimnis“, griff zur bronzenen Glocke. Dieser besondere Klang wirkte immer sofort auf alle anwesenden Mitarbeiter. Gespräche verstummten, alle Tastaturen ruhten.
Wu-Shi war hier der mächtige Mann. Der Han-Chinese mit leicht tibetischem Einschlag- einer seiner Großväter kam aus Tibet- galt als einer der klügsten chinesischen Köpfe der bemannten Raumfahrt. Er war 52 Jahre alt, etwas leicht übergewichtig, liebte gutes Essen und intelligente Gespräche. Er war Vater von vier Kindern, die jetzt an verschiedenen Universitäten studierten, immer auf den Spuren ihres Vaters, der fast 15 Jahre lang als Professor lehrte, bevor er hierher berufen worden war. Seine Frau lebte in einer kleinen Stadt in der Nähe, und wenn es möglich war, verbrachte er seine freie Zeit mit ihr und den Kindern, die gerne zu Besuch kamen. Sein rundliches Gesicht sah friedlich aus, zumal ihm kaum noch Haare geblieben waren, aber niemand durfte ihn unterschätzen. Er galt als gerecht, aber auch als unnachgiebig, wenn er ein Ziel verfolgte. Sein Englisch war passabel, aber er nutzte die Aufenthalte in Europa und den USA immer gerne aus, seine Kenntnisse aufzubessern.
Nun war ihm die Leitung dieses merkwürdigen Projektes übertragen worden. Untypische Gravitationsänderungen auf dem Mond! Nur ein Parteibonze konnte sich eine solche Projektbezeichnung ausdenken!
„Noch zehn Minuten bis zur Annäherung unseres Satelliten an den kritischen Punkt“, gab er bekannt. Die Werte liefen am unteren Rand es Bildschirmes, und die Mitarbeiter hatten sie auch auf ihren kleinen Computermonitoren. Sie verfolgten den pulsierenden roten Punkt auf den s-förmig gewundenen Bahnen.
Der kritische Punkt war der Punkt der Flugbahn, an dem der Satellit endgültig in die Umlaufbahn um den Mond einschwenken und Kurs auf das Mare Tranquillitatis nehmen würde. Spätestens dann war jedem, der auf der Welt einen Satelliten verfolgen konnte auch klar, dass die Chinesen nicht nur Kenntnis von den merkwürdigen Vorgängen dort hatten, sondern auch selbst in das Geschehen eingreifen wollten. Die Mitteilungen der NASA waren gründlich analysiert worden. Wu-Shi kannte Peter Soerenson und schätzte ihn.
„Zentralschirm einschalten, Flugbahnkorrekturrechner kontrollieren, Flugkoordinaten und Zustandsdaten der Kamera und der Messgeräte anzeigen!“
Auf dem großen Bildschirm baute sich sofort das Bild des Mondes auf. An den Rändern erschienen die geforderten Zustandsdaten. Auf einem kleinen Zusatzfenster im großen Bildschirm erschienen die vorausberechnete Flugbahn und das Symbol des Satelliten. Alles verlief normal. Der Satellit war stabil auf seiner Bahn. Langsam rückte er zu dem roten Punkt vor, dem kritischen Punkt.
Ständig wurden die Daten erneuert.
Wu-Shi stand ruhig und gelassen vor dem Hauptschirm. Die Vorbereitung dieses speziellen Satelliten war ohne Probleme verlaufen, der Start ohne Verzögerung erfolgt, die Flugbahn stabil. Alle Überprüfungen verliefen erfolgreich. Längst waren solche Projekte zur Routine geworden.
„Kritischer Punkt in einer Minute“, meldete ein Techniker, dann zählte er die Sekunden herunter.
„50…40…30…20…10…5…Zusatztriebwerk…geschaltet…kritischer…Punkt…passiert… Lageposition ohne Probleme…Zusatztriebwerk ausgeschaltet…Satellit dreht sich… Kamera erfasst Zielgebiet…Manöver geglückt und beendet…Flugbahn weiterhin stabil.“
Wu-Shi war zufrieden. Der Satellit war in die Umlaufbahn eingeschwenkt. Zuerst würde er den Mond mehrfach umkreisen, dann ebenfalls auf eine quasi-stationäre Bahn aufsteigen. Bald würde er wissen, was es mit dieser Stelle auf sich hatte, die die Amerikaner gefunden hatten.
„Manöver wie geplant fortsetzen“, befahl er. „Zwei Minuten vor Erreichen des ersten Überflugpunktes alle Messgeräte einschalten. Aufzeichnung sichern.“
„Überflugpunkt in 2 Stunden, fünf Minuten und 8 Sekunden erreicht…ab…jetzt!“
Die Meldung des Technikers war über das Kommunikationssystem für alle zu hören. Wu-Shi machte sich auf den Rückweg. Es gab so viel zu erledigen, dass diese zwei Stunden mit Arbeit gefüllt waren.
Er teilte allen mit, wo er zu erreichen war, dann drehte er sich um und ging zur Tür.
„Direktor Wu-shi!“, rief da einer der Techniker. „Da tut sich etwas! Wir empfangen Signale!“
Wu-Shi behielt einen klaren Kopf. Jetzt schon Signale? Aus dieser Entfernung?
„Wer empfängt Signale? Geht das etwas genauer?“, wollte er wissen.
„Der Satellit überträgt Signale, die er empfängt.“
Das war unmöglich. Der Satellit musste erst entsprechend aktiviert werden, bevor er Signale aufnehmen und zur Basis senden konnte. Das war aber jetzt nicht der Fall, falls keiner geschlampt hatte. Erst in zwei Stunden sollten die Systeme von Off auf On geschaltet werden.
„Systeme überprüfen, Quelle verifizieren, Computeranalyse“, ordnete er sofort an.
Wu-Shi war schnell und sicher in seinen Entscheidungen, so wie immer. Es war ausgeschlossen, dass diese Signale vom Satelliten kamen.
„Übertragung vom Satelliten überprüft und bestätigt“, hörte Wu-Shi einen der Techniker.
„Quelle nicht terrestrisch“, kam die nächste Mitteilung. „Signalquelle muss auf dem Mond liegen.“
Wu-Shi dachte schnell nach. Das war sicher ein Trick der Amerikaner, um ihn zu verwirren. Doch wie hatten sie es geschafft, „seinen“ Satelliten auf On zu schalten und dann Signale vom Mond an ihn zu senden? Wenn es einen Sender auf dem Mond gäbe, dann wüsste er, Wu-Shi, das schon längst. Außerdem traute er Peter, seinem Freund, das nicht zu. Doch da gab es ja noch die CIA, der alles zuzutrauen war. Aber hatten die auch Mitarbeiter in der NASA?
„Quelle lokalisieren!“, ordnete er sofort an. „Wie weit ist die Computeranalyse?“
„Die empfangenen Signale weisen keine Muster auf, die in einer irdischen Sprache vorkommen, Wu-Shi“, lautete die schnelle Antwort. „Die Signale scheinen eher Bildträger zu sein.“
„Bildträger?“, verwunderte sich Wu-Shi. „Lässt sich etwas rekonstruieren?“
„Wir legen es auf den Nebenschirm.“
Wu-Shi betrachtete das Flimmern, das sich da aufbaute. Es erinnerte ihn an seine Kindheit, als er einmal zusah, wie ein alter Fernsehapparat eingerichtet wurde. In dem Dorf seiner Kindheit gab es kein modernes Fernsehgerät. Die Zeit hatte dieses Dorf schlichtweg vergessen. Bevor damals die richtige Sendefrequenz gefunden worden war, erschienen Schlieren und verzerrte Banner. Jetzt war es auch so.
„Ändern sich die Signale?“, wollte er wissen.
„Nein, es ist immer die gleiche Abfolge, wie es scheint. Wenn es ein Bildsignal ist, dann ist es offenbar ein Standbild.“
„Findet der Computer einen mathematischen Bezug, um die Bildelemente anzuordnen?“, wollte er wissen, während er immer noch dieses wirre Durcheinander beobachtete.
„Die Anzahl der gesendeten Elemente liegt bei 1.605.114.537.741. Bestätigung des Wertes bei der zehnten Wiederholung.“
„Ist das eine Primzahl?“, wollte Wu-Shi wissen. Merkwürdigerweise fiel ihm immer ein, wie er als Student auf die Frage reagiert hatte, wie er sich mit Aliens verständigen wollte. „Zuerst mit Primzahlen!“, hatte er damals geantwortet.
Der Techniker tippte etwas in den Computer ein.
„1605114537741 ist keine Primzahl, Wu-Shi“, meldete er und tippte weiter. „Es ist auch kein Produkt von zwei Primzahlen. Daher kann ich leider …“
„Ich weiß“, meinte Wu-shi. „Es gibt keine eindeutige Zerlegung. Hat jemand eine Idee?“
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