„Wir könnten alle Zerlegungen probieren und sehen, was dabei herauskommt“, schlug einer vor.
„Das ist zu zeitaufwendig“, entschied Wu-Shi. „Lasst uns überlegen. Das könnte ein Trick der Amerikaner sein, die irgendwo hier einen Spion haben, der ihnen die Systeme des Satelliten verraten hat. Wenn sie es schaffen, den Mond so anzufunken, dass unser Satellit die Reflexionen auffängt, dann können sie uns in die Irre führen. Das haben wir auch schon einmal so gemacht, wie ihr euch erinnert. Doch welches Muster werden sie wählen? Wenn sie uns testen wollen, muss es etwas sein, das so dicht vor unseren Augen liegt, dass wir es nicht sehen. Was könnte das aber sein?“
Alle im Raum waren ein eingespieltes Team. Jeder kannte die Stärken und Schwächen des anderen, wenn sie gemeinsam überlegten.
Plötzlich lachte eine junge Frau, die vor einem Rechner saß.
„Was ist so lustig, Ling?“, fragte Wu-Shi etwas verärgert. „Kannst du uns mitlachen lassen?“
Ling war ein Naturtalent für kryptische Systeme. Die Wissenschaftler waren auf sie aufmerksam geworden, weil sie schon als Mädchen mehrere Preise gewonnen hatte, als es um das „Knacken“ von Verschlüsselungssystemen ging. Sie wurde aus dem normalen Schulbetrieb genommen und in eine Spezialausbildung gesteckt. Schließlich landete sie in der Raumfahrt, wo sie neben einer Ausbildung als Astronautin die Aufgabe übernommen hatte, sichere Verschlüsselungen für Raketenkommandos zu entwickeln.
Ling war knapp 24 Jahre alt und immer noch ledig. Das hatte ihr schon etwas Spott eingebracht, aber es war mit ihren 1,80m nicht einfach, einen passenden Mann zu finden. Sie stammte aus dem Südosten Chinas und gehörte daher auch eher zu den ruhigen Menschentypen dieser Gegend. Ihr langes, schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden und hing ihr über die Schulter. Auf Männer wirkte es auch abschreckend, wenn sie von ihren Hobbys hörten: alte chinesische Philosophen, besonders Laotse, dazu jede Menge Yogaübungen und Meditationen. Sie sammelte Abschriften von alten chinesischen Werken und las gerne in ihnen. Der größte Teil ihres Gehaltes ging dafür über die Ladentheke, der Rest fast immer an ihre Familie. Schmuck besaß sie überhaupt nicht.
„Die Amerikaner sind doch wie kleine Kinder, wenn sie sich einen Scherz erlauben wollen, Wu-Shi“, lachte sie wieder. „Das ist eine Stärke und eine Schwäche. Es handelt sich um eine dreizehnstellige Zahl, nicht wahr?“
„Jeder kann hier zählen“, knurrte Wu-Shi. „Komme zur Sache, bitte. Wir stehen vor dem ersten Überflug und haben keine Zeit für Nebensächlichkeiten.“
„Diese Nebensächlichkeit ist aber der Schlüssel“, meinte Ling. „Was wissen wir von den Anomalien? Sie bilden eine Fibonacci-Folge, die mit 13 endet. Das kann noch Zufall sein, aber wenn man diese Zahlen hintereinanderschreibt, hat man eine achtstellige Zahl. Nimmt man die zweite Musterzahl 1-4-2-8-5-7 auch dazu, hat man eine zusätzliche sechsstellige Zahl. Und jetzt kommt die Lösung, Wu-Shi.“
Sie machte eine kleine Pause. Doch Wu-Shi war schnell im Denken. Er kannte auch Lings Art zu denken und zu argumentieren. Nicht umsonst hatte er darauf bestanden, sie in seinem Team zu haben.
„Das Produkt dieser beiden Zahlen ist entweder eine dreizehn- oder vierzehnstellige Zahl. Sehr gut, Ling! Wenn das stimmt, hast du einen Orden verdient! Die Idee muss man erst einmal haben.“
„Es stimmt, Wu-Shi!“, rief der Techniker, der die Werte längst eingegeben hatte. „Ich habe es überprüft. 1605114537741 ist das Produkt von 11235813 und 142857. Ganz schön raffiniert von den Amis.“
„Nicht raffiniert genug“, lachte Wu-Shi und sah zu Ling hinüber. „Baut die Signale in einem 11235813 x 142857 Gitter auf. Auf den Bildschirm!“
In weniger als einer Sekunde baute sich das Bild auf.
„Das ist ein Witz!“, rief Wu-Shi. „Was soll das sein?“
Alle starrten auf das Bild, das aus zwei verschiedenen Elementen bestand.
„Was ist das?“, fragte Wu-Shi wieder. „Bildsuchanalyse!“, ordnete er schnell an.
Fast sofort kam die Antwort.
„Das erste Teilbild zeigt den verschwundenen Reflektor der Apollo 11 – Mission“, erklärte ein anderer Techniker, der für Bildanalysen zuständig war. „Das zweite Bild zeigt mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Sternsystem, das aber in unseren Dateien keine Entsprechung hat.“
Wu-Shi war verwirrt, was selten vorkam. Warum sollten die Amerikaner mit einem Trick den Reflektor verschwinden lassen, dann an dieser Stelle mit einem anderen Trick Schwerkraftanomalien erzeugen und zuletzt mit einem dritten Trick ihren Satelliten täuschen?
Das waren entschieden zu viele Tricks, fand er. Und den Amerikanern traute er bei aller Freundschaft zu Peter Soerenson auch nicht zu, ein so gewaltiges Unternehmen mit drei Tricks dieser Größenordnung durchzuführen, ohne dass es schon eine Woche später in der Zeitung stand.
Nein, es musste eine andere Erklärung geben, eine, die ohne die Amerikaner auskam.
„Das ist undenkbar!“, murmelte er, wissend, dass jeder im Saal dieses Murmeln mitbekam. Wann hatte er schon einmal so unsicher hier gestanden?
„Was ist undenkbar, Wu-Shi?“, wollte Ling wissen.
„Wenn alles Denkbare ausgeschlossen ist, bleibt nur das Undenkbare, Ling. Das ist ein eiserner Grundsatz, den es zu bedenken gilt. Die Amerikaner sind auf eine nicht-irdische Intelligenz gestoßen. Und wir haben das soeben bewiesen. Was das für uns und alle auf der Welt bedeutet, ist auch klar.“ Er zögerte einen Moment. „Ich muss das Zentralkomitee benachrichtigen. Sofort. Nichts ist eiliger als das hier!“
Ling dachte an Laotse: „Der Himmel ist ewig und die Erde dauernd.“
„Der Überflug findet in zwei Minuten statt“, rief ein Techniker.
„Das hat jetzt keine große Bedeutung mehr“, stellte Wu-Shi fest, der sofort den Raum verließ. „Alles aufzeichnen! Ling wird mich hier vertreten!“
Das war eine große Auszeichnung, die zeigte, wie sehr Wu-Shi Ling schätzte.
Der Sicherheitsoffizier trat zu seinem Kontrollpult.
„Niemand wird den Raum verlassen, bis Wu-Shi wieder hier ist. Außer“, er wandte sich Ling zu, „Ling gibt die ausdrückliche Erlaubnis dazu.“
„Wir machen wie besprochen weiter“, ordnete Ling an. „Betrachten wir die Ergebnisse des Überfluges.“
Das Bild es Mondbodens baute sich auf. Große und kleine Krater huschten über den Schirm.
„Jetzt ist es soweit“, rief der Techniker. „Alle Systeme sind seit 10 Minuten im Zustand ON. Gravitationsmessungen laufen.“
Der Satellit überflog das Mare Tranquillitatis und lieferte alle gemessenen Werte, die mit nur ganz geringer Verzögerung angezeigt wurden.
101,23 101,24 100,66 101,34 101,22
„Wo ist die Anomalie?“, fragte Ling in die Runde. „Haben wir die Stelle verfehlt?“
Die Techniker prüften die Werte und übertrugen die Bahn des Satelliten auf das Mondgelände. Die Spur führte genau über das Gelände der ersten Mondlandung.
„Wir müssen den nächsten Überflug abwarten, Ling“, schlug einer aus der Gruppe vor. „Vielleicht arbeiten unsere Geräte nicht korrekt.“
„Dann hätten wir auch nicht die ersten Werte der Amerikaner bestätigen können“, warf ein anderer aus der Runde ein. „Die Anomalie ist verschwunden. Die Botschaft ist geblieben!“
„Fragt sich nur, was wir damit machen sollen“, warf Ling ein.
Wu-Shi ahnte nicht, dass wenig später die Überlegungen und Erkenntnisse von Haniel, einem weiteren Erzengel, verschlüsselt über ein Multimedia-Telefon auf einen Server überspielt wurden, von dort zu einer Mail-Adresse. Es bedurfte nur einiger Mausklicks, um Justus Frahm von der AUG zu informieren.
Tim Bird starrte auf den Computer. Jede freie Minute während des ständigen Astronautentrainings nutzte er auf diese Weise. Er wurde von Rätseln magisch angezogen, besonders, wenn sie sich um das weite Universum drehten. Obwohl er noch jung war, verfügte er über weit mehr an Wissen über das Universum, als sein Job das erforderte. Die beiden Regale in seinem Zimmer hier an der Raumakademie waren vollgestopft mit Fachliteratur, und Tim hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, alle Informationen, die er für wichtig hielt, in seinem Computer zu speichern. Sein externer Datenträger von 1 TB war schon zu 77% gefüllt. Für seine eigenen Zwecke hatte er sich eine Art Info-System angelegt, das es ihm erlaubte, schnell und gezielt nach Informationen zu suchen.
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