Warum war das so? Es musste eine logische Erklärung dafür geben, und er musste sie finden. Doch zunächst einmal wollte er die Lücke im Sicherheitssystem finden. Wahrscheinlich war es diese Dr. Hider, aber es war nur ein Verdacht.
Die Mail war lang und verschlüsselt. Die Mail-Adresse info1a@aug.org war nur wenigen bekannt. Die im Internet veröffentlichte Adresse der Anti-Universe-Group (AUG) lautete anders. Alle Mitglieder der weltweit operierenden Gruppe kannten nur die offizielle Adresse, aber der innere Führungskreis und die vielen Zubringer aus allen Schichten der Politik hatten ihre eigenen Adressen. Info1a gehörte einem diesem dieser Zubringer, die unerkannt in hohen Positionen saßen und den Vorsitzenden der AUG, Justus Frahm, in Bern informierten, wenn sich etwas Interessantes tat. Für die allgemein bekannte Adresse war die Sekretärin zuständig, die durch freiwillige Helfer unterstützt wurde. Ein Student war für die Webseite www.das-universum-ist-gottes-besitz.com zuständig, die mehrmals täglich aktualisiert wurde. Justus Frahm entschlüsselte und las nur die ganz besonderen Infos, die ihn direkt erreichten.
Justus Frahm lebte als 60jähriger Mann in seiner Villa in der Schweiz. Als junger Mann war er kurz in ein Kloster eingetreten, fand aber dann, dass das ruhige Leben dort der Sache Gottes nicht besonders dienlich war. Er trat aus dem Kloster aus, bevor er die Weihen erhalten konnte, studierte in Bern Philosophie und Theologie, um sich dann aber im Familienbetrieb zu engagieren. Lange Zeit war er ein erfolgreicher Manager, der die Firma vorantrieb. Trotz mehrerer Anläufe hatte es nie zur Hochzeit gereicht. Seine extremen religiösen Ansichten schreckten die Frauen schnell ab. Er sah sehr attraktiv aus, und seine große, aufrechte Gestalt fiel überall schnell auf. Sein Haar war schon früh ergraut, und über den blauen Augen wucherten die dichten Augenbrauen. Er war immer stolz darauf, beidhändig arbeiten und schreiben zu können. Nach und nach war in ihm die Gewissheit gewachsen, dass Gott mit ihm etwas Großartiges vorhabe. Schon in den ersten Tagen des Klosters hatte er diese Hitze im Nacken gespürt, wenn er sich für „seinen Gott“ ereiferte.
Nun war er Millionär im Ruhestand und leitete die AUG, die er vor vielen Jahrzehnten schon gegründet hatte, damals noch unter dem Decknamen MOSES.
Er erinnerte sich an die letzte Kampagne „Sendet Gebete in das All und vertreibt so das Böse von der Erde“. Es war ein großer Erfolg gewesen, denn diese Gebete sollten nicht zum Firmament geschickt werden – er wusste, dass das wenig nützen würde- sondern als Mail oder Anfrage an die Server von NASA und ESA, neuerdings auch an die bekannt gewordene Adresse von Hainan, der chinesischen Raumfahrtzentrale. Über eine Million Menschen hatten sich an der Kampagne beteiligt und die Server zeitweise lahmgelegt.
Er schauderte immer noch, wenn er an das Brennen in seinem Nacken dachte, als die Kampagne lief. Eines Abends hatte die Haut sogar Blasen gebildet, so sehr spürte er das Feuer des brennenden Dornbuschs in seinem Nacken. Doch er hatte alles ertragen!
Damals hatte Gott selbst ihm offenbart, dass das Ende der Zeit gekommen sei. Armageddon stünde vor der Tür, und er, Justus Frahm, habe darin eine tragende Rolle zu spielen.
„Die Macht des Gebetes!“, lautete dann auch die Titelüberschrift der eigenen Webseite und die vieler Tageszeitungen. Schon während seines Studiums der Theologie an verschiedenen europäischen und amerikanischen Universitäten war ihm seine Mission Stück für Stück klar geworden: Das All war der Sitz Gottes, und er, Justus Frahm, war auserwählt, diesen Sitz gegen die Begierde der modernen Menschen, auch das All zu erobern, zu verteidigen. Er war ein brillanter Redner, ein überzeugter Christ und voll erfüllt von seiner Mission.
Als sogar der Vatikan seinen Segen zu dieser Mission gab, strömten ihm die Gläubigen zu. Er besaß Zeit, Mittel und Autorität, sein Ziel zu verfechten.
Er sah sich den Absender der Mail an. Ein unscheinbarer Name: Sariel, einer der Erzengel. Sofort erinnerte er sich, dass Sariel der Erzengel der NASA war, während Uriel der Erzengel der ESA war.
Die Erzengel, so wiederholte er schnell im Gedächtnis, tragen das Gebet der Menschen vor den Altar des Höchsten. Seine sieben Erzengel trugen die Informationen der wichtigen Entscheidungszentren zu ihm, damit er den Anspruch des Höchsten verteidigen konnte.
Sariel! Das musste etwas sehr Wichtiges sein. Kein Erzengel wandte sich an ihn, um unwichtige Dinge zu benennen. Er rief sein Dechiffrierungsprogramm auf, suchte die Datei SARIEL und kopierte die Mail ein. Er wurde aufgefordert, sein eigenes Passwort einzugeben. Ohne zu zögern, gab er die beiden ersten Verse von Psalm 23 ein. Es dauerte einen kleinen Moment, dann erschien die entschlüsselte Botschaft.
„Anomalien auf dem Mond werden von der NASA als Signale einer fremden Intelligenz gedeutet. Die Signale entstehen an der Landestelle von Apollo 11. Bisherige Erkenntnisse sind im Anhang aufgeführt. Ich werde weiter berichten, halte es aber für notwendig, alle Erzengel zu instruieren.“
Justus Frahm las die Anhänge, die alle bisherigen Erkenntnisse und Aufzeichnungen wiedergaben. Er spürte den Stich im Herzen, den er immer spürte, wenn der Widersacher Gottes die Finger im Spiel hatte. Er brauchte nicht lange zu überlegen, um sofort und sicher zu wissen, wer hinter diesen Signalen steckte!
Der Widersacher! Der Antichrist hatte sich erhoben, um die Menschheit zu verderben. Er bereitete den Endkampf vor. Er sammelte mit diesen geheimen Signalen seine Scharen um sich. Das waren doch seine verschlüsselten Botschaften, hineingeschickt in die letzten Tage der Welt!
Aber er, Justus Frahm, würde ihm entgegentreten. Er würde die Streiter des Höchsten versammeln und sie dem Lamm übergeben, bereit für die letzte Schlacht!
Hitzewallungen quälten ihn, gefolgt von eisiger Kälte. Er fühlte, wie sich sein Inneres wand, wie seine Eingeweide aufbegehrten. Oh ja, so deutlich hatte er es noch nie gespürt.
Die Zeit war gekommen.
Er setzte sich hin und trank von dem Wasser, das in der kühlenden Karaffe bereitstand.
Was sollte er als Erstes tun? Einen flammenden Aufruf verfassen? Handzettel drucken lassen? Ein Fernsehauftritt in seinem Kanal „Gebet und All“? Beten? Fasten?
Es lief ihm so vieles durch den Kopf, doch er entschied sich, zunächst einmal alle Erzengel anzuschreiben und zu informieren. Er musste alle Informationen bekommen, über alles Bescheid wissen. Dann konnte er die Auserwählten des Herrn versammeln und in die Schlacht führen. Erst dann!
Die Worte liefen schnell und sicher über den Bildschirm. Er kopierte sie in die sieben verschiedenen Programme zur Verschlüsselung und drückte zufrieden auf RETURN.
Der Herr hatte seine Hand geführt. Er war nur sein Werkzeug!
Bei sieben Empfängern kamen unverfängliche Mails auf nicht besonders geschützten Adressen an:
„Haben Sie Interesse an Naturprodukten? Wir nennen Ihnen auf Wunsch die notwendigen Adressen, denen Sie vollkommen vertrauen können. Sehen Sie nach bei www.alle-unsere-geheimnisse.at“
Es gab diese Webseite wirklich, und sie führte auch eine Reihe von Bio-Läden und Bio-Erzeugern auf, die alle der AUG nahestanden oder ihr sogar gehörten. Die Eingeweihten wussten, dass die Anfangsbuchstaben der Webseite der Hinweis waren, dass sie nun auf ihren geheimen Accounts nachsehen mussten. Die Botschaft von Justus Frahm war angekommen.
Delingha in Zentralchina, größtes Raketenabschuss- und Testgelände in China.
Zum Zentralraum hatten nur die Wissenschaftler Zugang, die viele Sicherheitsüberprüfungen bestanden hatten oder direkt vom ZK der Kommunistischen Partei hierhergeschickt worden waren. Dieser Raum war das Herz der Station. Er war kreisrund, hatte fast 40m Durchmesser, keine Fenster und keine nicht einsehbaren Ecken. Die mehrfach gesicherten Türen öffneten und schlossen sich pneumatisch. Neben einem unter der Haut eingepflanzten Chip und einem individuellen Code musste auch der Iris- Scanner passiert werden, um diesen Raum zu betreten. Außer der vorgeschriebenen weißen Kleidung durfte nichts getragen werden. Kein Papier oder irgendeine Aufzeichnung durfte den Raum verlassen. Jeder Mitarbeiter, der hier Zugang hatte, besaß hier einen eigenen Computer, der mit dem Zentralcomputer vernetzt war. Alles, was auf dem Computer eingegeben wurde, wurde vom Zentralrechner gespeichert. Löschen von eingegebenen Zeichen war nicht möglich. Jeder im Raum trug ein Mikrofon. Alle Gespräche und Äußerungen wurden aufgezeichnet. Zu jeder Zeit war mindestens ein Sicherheitsbeamter des Geheimdienstes anwesend. Nur er durfte eine Waffe tragen, was aber so gut wie nie vorkam. Schon beim geringsten Anlass wurden alle Zugänge von einem außen sitzenden Sicherheitsmanager blockiert. Die automatische Zentralbelüftung war mit einem Mechanismus verbunden, der unmittelbar wirkendes Betäubungsgas in den Raum leiten konnte.
Читать дальше