Ein weiterer Tag im Nieselregen unter Dösen, Plaudern, Rauchen, Pinkeln, am Sitz verzweifelt hin und her Rutschen, um das brennende Hinterteil und die schmerzende Wirbelsäule zu entlasten, ging anstrengender Nachtfahrt voraus. Die Fähre würde nicht warten. Alle waren damit einverstanden, die Nacht durchzufahren. Die Aussicht, wiederum eine Nacht in lähmender Enge in Atemnot hart an der Grenze zur Klaustrophobie zubringen zu müssen, konnte nur durch die noch schlimmere Aussicht entschärft werden, eine Woche in nasskaltem, verregneten sizilianischen Hügelland totschlagen zu müssen.
Beim abendlichen Stopp nahe Neapel wurden die Essnäpfe aus Aluminium verteilt. Wir ritzten unsere Namen ein. Die Ära der selbstversorgenden Kochaktivitäten war angebrochen – und stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Es dauerte zwei Stunden, bis die Spaghetti über der lächerlich winzigen Flamme des einzigen, traurig überforderten Gaskochers gar waren. Mangels zweitem Topf und weil wir uns dem Verhungern näherten, drückten wir einfach Knoblauchzehen über die pappige Nudelmasse, schütteten Öl dazu, mischten und stopften uns mit dem Papp voll.
Nach einer Weile ging ich ins Gebüsch und wollte kotzen. Es gelang mir leider nicht, und ich traf dort einige Mitreisende bei ähnlichen Bemühungen an. Während der Nacht unter Bauchgrimmen schworen wir einander, künftig Nachtfahrten zu verweigern und Spaghetti niemals wieder in solcher Menge auf dem winzigen Ölkocher zu Mehlpampe werden zu lassen und dann auch noch mangels Alternative zu fressen. Ja, wir sagten »fressen« ... es war uns ein Bedürfnis, grob zu werden. Wir ließen die Nudel haufenweise für die streunenden Hunde zurück und hungerten bald wieder. Allerdings regte sich diesbezüglich bereits Trotz. Bert verwaltete unser Essensgeld. Warum sollten wir während der Reise unser Taschengeld für Nahrung und Getränke ausgeben, da wir Bert doch die Essensbeiträge schon bezahlt hatten? Er musste einfach für unser Wohlergehen sorgen. So stand es im Vertrag. Im Anschluss an die Stressphase des Wettrennens mit der Zeit würde es sicher besser werden, glaubte Sabine und steckte uns mit diesem Glauben an.
Ich gedachte anerkennend unserer Fahrer, die keine Zeit, keinen Platz hatten, Schlaf wenigstens zu suchen und jener unserer »Brüder«, die freiwillig bei Bert, Brommel und Gerry in den Fahrerkabinen saßen, obgleich die Chance, es sich dort bequem zu machen, gleich Null war. Und immerhin blieb uns im Wagenfonds mehr Platz durch ihr Opfer. Später fand ich allerdings heraus, dass der Blick durch die Frontscheibe auf die Straße und das schlaflose Sitzen auf den harten Sitzen in der Fahrerkabine die düstere Moder-Atmosphäre im Wageninneren ohne die Chance, viel durch die kleinen, beschlagenen Gucklöcher zu sehen, bei weitem aufwog.
Brommel und Gerry wechselten einander an »Tarzans« Steuer ab. Bert fuhr »Uhuru« allein. Es machte Spaß, den Brudertruck am Seitenfenster vorüberziehen zu sehen, wenn Brommel Lust zum Überholen bekam. Seit ich mich in Rubber-Duck, den Lastwagenfahrer alias Kris Kristofferson aus dem Film »Konvoi« verliebt hatte, war es ein Traum von mir gewesen, selbst einmal in einem Konvoi mitzufahren. Später, im weniger spießigen Afrika, jedenfalls, was die Straßenverkehrsordnung betrag, würden wir auch den »Tarzan« und seine einladende Galerie besiedeln dürfen. Österreich ließ nur den als Bus typisierten umgebauten »Uhuru« als Passagierfahrzeug zu.
Wie Sardinen zusammengepfercht, um Schlaf ringend, Beine ausgestreckt übereinander schlichtend, seufzend, in quälend flüchtiges Traumland tauchend, erwachend, unter Zigarettenrauch hustend, wieder hinwegdösend, von fremden Gliedern gestoßen, brachten wir die dritte Nacht zu.
Wir litten, und dies war Abenteuer.
Schließlich hatten wir keinen Neckermann-Komfort-Urlaub gebucht. Wer gemeinsam friert, unter allzu gefüllter Blase und allzu leerem Magen gleichermaßen leidet, sicher sein kann, dass der Gesprächspartner das eigene Aussehen ebenso abgerissen und zivilisationsfern findet, wie man selbst das seine, dass der teigig-bleiche Teint nicht nur ein Charakteristikum des eigenen Antlitzes ist, beginnt zu ahnen, was Nächstenliebe bedeutet. Er vergisst dieses Wissen jedoch sofort, sobald Fototasche oder Rucksack vom Fuß eines Nächsten durch den Wagengang befördert wird. Wir fanden immer noch Gründe zum Lachen.
Für ein Frühstück blieb wieder keine Zeit, denn die Fähre wartete nicht.
»Jaja,« äfften wir ungezogen hinter Bert her, »... und blabla ...« Also kein Kaffee, kein Brötchen, allenfalls Nikotin. Immerhin durften wir eine Autobahnraststätte mit Toilette und Waschanlagen aufsuchen, anstatt unsere Notdurft hinter Büschen verrichten und uns aus der Waschflasche das Gesicht befeuchten zu müssen.
Nach dem Halt an der Raststätte brausten wir weiter. Nach etwa zwanzig Kilometern fiel uns auf, dass Sabine, die Krankenschwester, fehlte. Gerade als wir diese Erkenntnis, gefärbt von überraschend stark und unerklärbar aufbrandender Panik durch das Sprachrohr in Bert’s taube Ohren brüllten, überholte ein Italienischer Lastwagen unser eigenes Gefährt. Sabine saß drüben im Führerhaus und winkte uns. Ihr Gesicht war traurig.
Wir hatten sie schlicht auf der Raststätte vergessen.
Als sie bleich, fassungslos und doch lachend wieder unter uns saß, gelobten wir einander, fortan nach jedem Stopp eine Zählung zu machen. Bert würde das nicht tun, wir seien doch kein Kindergarten, hatte er uns angeschnauzt, kein bisschen erleichtert wegen Sabines Wiedererscheinen, sondern zornig über den neuerlichen erzwungenen Aufenthalt. Wir hielten an der neu entwickelten Gewohnheit des akribischen Zählens der Reiseteilnehmer tatsächlich bis ans Ende der Reise fest. Die Sorge um Fotoausrüstung und Gepäck schwebte fortan gleichermaßen unverrückbar wie ein Gespenst über unser aller Köpfen. Die ständige Feuchtigkeit im Wagen machte recht nachdenklich. Wir wagten kaum Vorausschauen auf tropische Gegenden. Und ich hielt an mich, um meine Kamera nicht alle paar Stunden auf ihr Funktionieren hin zu überprüfen.
Armin, mein ständig in Begleitung einer Zigarette befindliches Gegenüber, schien meine Gedanken telepathisch zu verfolgen. Zumindest signalisierte sein ständig auf mein Gesicht fixierter Blick Interesse an meinem Innenleben. Vielleicht hatten es ihm auch bloß meine Wimpern angetan oder meine Oberlippe. Ich hatte mich einigermaßen an sein Starren gewöhnt. In müßigen Stunden dachte ich allerdings darüber nach, wie ich ihm auf mögliche fiese Weise heimzahlen würde können, dass er mich keine Minute lang vergessen ließ, dass ich zu Stressakne neigte und zu Fieberblasen. Mit ihm plaudern zu wollen, hatte ich aufgegeben. Er war bereit zu antworten, was immer ich fragte, blieb aber unfähig, den kleinsten Gesprächsfaden selbst weiterzuknüpfen.
Bert, autark vorne im Führerhaus, mussten die Problemchen der Gefangenen nicht kümmern. Er hatte die Übersicht zu bewahren, und das schien ihm wohl Anforderung genug.
»Geben wir ihm eine Chance,« verlangte Sabine und drehte die Musik in ihrem Walkman lauter, sodass wir alle etwas von dem dämonischen Rauschen hatten. Wegen der Vibrationen und dem Motorlärm waren wir zu Tatenlosigkeit verdammt, jedenfalls aber zu viel Schweigsamkeit. Begnadete Genossen wie Alfi und Luis schienen über einen Schalter zu verfügen, den sie nach Lust und Laune immer und überall betätigen und dadurch einschlafen konnten. Unmöglich, lange zu lesen. Und der Kassettenrecorder zog angeblich die Tonbänder ein. Unmöglich also, ihn zu benutzen.
Zu mittag des dritten Reisetages hatten wir immer noch kaum etwas im Magen ...
... und trotz allem grinsend verließen wir nachmittags die Fähre von Reggio di Calabria nach Messina.
Eine Etappe – geschafft! Wir waren auf Sizilien. Das wurde umgehend mit Butterbroten und Äpfeln gefeiert. Bert spendierte diese üppige Jause. Wir fassten es kaum. Wir hatten gar nichts sagen müssen. Freiwillig hatte er eine Schachtel herbeigeschleppt und Essen ausgeteilt. Sogar Bewegung wurde uns vergönnt, denn alle Rucksäcke mussten zwecks Neuanordnung zu besserer Verteilung der Lasten ausgeladen und wieder eingeräumt werden. Auf Sizilien schien an diesem Tag sogar die Sonne. Und das war schon mehr, als wir uns morgens noch erträumt hatten.
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