Das wäre natürlich echt eine Sensation. Und es beflügelte Ariane, eifrig weiter zu sortieren. Um halb drei wurde die nächste Kiste geliefert, keinen Moment zu spät, sie hatte gerade die letzten Ordner aus der alten genommen. Sie legte den übrigen Bürokram beiseite und ließ die alte Kiste abtransportieren; der BüroNotDienst benutzte die Dinger mehrfach, wenn es möglich war, und hier war für zwei Kisten auch absolut kein Platz.
Immerhin konnte man jetzt absehen, dass man pro Farbe und Jahr etwa vier Ordner brauchte – manchmal reichten vielleicht auch drei. Wie diese vier Ordner aufzuteilen waren, das konnte man erst nach der ersten Feinsortierung sagen. Grob legte Ariane A bis G, H bis M, N bis S und T bis Z fest; erfahrungsgemäß gab es bei M und S doch immer die meisten Namen. Sollte sie pro Kunde ein Registerblatt verwenden oder einfach nur eine Büroklammer? Oder Heftstreifen? Was würden die offenbar völlig überforderten Mitarbeiter hier noch am ehesten benutzen können?
Fraglich.
Sie arbeitete sich weiter in der rechten hinteren Ecke des Raumes bis zur Wand durch und hatte bis Arbeitsschluss immerhin ein Stückchen Fensterbrett und ebenfalls ein Stückchen Regalbrett freigelegt. Soweit sie erkennen konnte, war das Regal solide, aus Holz, stark eingestaubt an den wenigen Stellen, die nicht von Papierstößen bedeckt waren, und reichte bis nach vorne zur Tür. Fünf oder sechs Fächer übereinander, schätzte sie.
Gut, eine halbe Stunde noch, dann hatte sie wieder einen Stapel zerlegt und abgeheftet. Und niemand hatte sich den Tag über blicken lassen! Hatte der Alte der Parole Einfach gar nicht ignorieren ausgegeben?
Doch, jetzt kam jemand - das Albertle. „Na, wie geht´s?“
„Passt schon“, antwortete sie, „ich bin noch beim Vorsortieren, aber immerhin weiß ich jetzt, dass der Raum ein Fenster hat. Und ein Regal.“
„Ehrlich?“ Albert staunte übertrieben. „Ich hab – warte mal – 1994 hier angefangen, und da hat´s schon genauso ausgesehen. Damals wollte ich mal ganz zart anregen, ob man die Unterlagen nicht aufräumen... oder vielleicht sogar wegschmeißen... das Geschrei hättest du hören sollen!“
„Weggeschmissen habe ich auch einiges. Sämtliche Werbepost, die irgendeine Intelligenzbestie hier reingeschmuggelt hat.“
„Sehr gut. Bis zu welchem Jahr hast du dich denn schon zurückgearbeitet?“
„Mit Riesenlücken – wer weiß, was drüben auf der linken Seite noch alles auf mich wartet – bis 1986. Da waren wir noch schwer in der Mittelstufe.“
„Gott, ja...“ Er seufzte ekstatisch. „Scharfe Zeiten. Spitze Schuhe, schwere schwarze Anzüge - “
„- und literweise Clearasil“, ergänzte Ariane brutal, denn Albert war damals ein einziger Pickel gewesen. „Ach ja. So schön waren die Zeiten auch wieder nicht. Pickel, Mathefünfer, die süße Sabrina, die nichts von mir wissen wollte..."
„Die aus meiner Klasse? War die nicht ein bisschen zu jung für dich?“
Oops. Jetzt fiel ihr ein, dass Albert letztes Jahr mit strammen fünfunddreißig die dreiundzwanzigjährige Marie geheiratet hatte – aber er schien gar nicht einzuschnappen. Der Alte wirkte offenbar recht abhärtend.
„Die war für ihre zarten Jahre schon ganz schön kess drauf“, erinnerte sich Albert ganz versunken. „Hat mich regelrecht erschreckt...“
Ariane kicherte. „Wir hatten doch vor ein paar Jahren Klassentreffen, und da war sie zwar nicht da, aber ein paar andere haben mir erzählt, dass sie schon zweimal geschieden und gerade mit einem Nagelstudio pleite gegangen ist.“
Albert wischte sich theatralisch den Schweiß von der Stirn und lachte. „Da bin ich mit Marie dann ja wohl besser dran.“ Dann wurde er wieder ernst. „Wenn sie nicht bald die Nase voll davon hat, wie Vater sich ihr gegenüber aufführt.“
„Warum wohnst du denn auch noch da?“, fragte Ariane. „Hättet ihr was Eigenes, müsste sie den Alten praktisch nie sehen.“
„So toll zahlt er auch wieder nicht“, murrte Albert.
„Na komm, für drei Zimmer zur Miete müsste es doch wohl reichen, oder? Kann Marie sich nicht auch noch einen Job suchen? Die sitzt doch bloß zu Hause rum, oder?“
„Unfreiwillig“, versicherte Albert. „Der Alte will, dass sie sich auf den Nachwuchs konzentriert.“
„Oh... kann man schon gratulieren? Werde ich sozusagen Tante?“
„Nix. Ich weiß jedenfalls noch nichts. Jani, du kennst doch Vater! Wozu sind junge Ehefrauen auf der Welt?“
Ariane winkte ab. „Geschenkt. Was hat deine Marie eigentlich so gelernt? Vielleicht kann ich ihr was finden.“
„Reiseverkehrskauffrau“, sagte Albert. „Mensch... das wäre ja absolut Klasse!“
„Versprechen kann ich dir nichts, aber ich werde es auf jeden Fall versuchen. Uns kommen so viele Firmen unter... So, jetzt fotografiere ich noch den Status, und dann reicht´s mir für heute.“
„Du bist auch schon ganz schön weit, finde ich.“
„Wart´s ab, bis ich fertig bin!“
Sie fotografierte, schloss ab und setzte sich mit ihrem Laptop draußen hin, um Lilli Bericht zu erstatten und anzufragen, ob sie einen Job für eine Reiseverkehrskauffrau wusste. Auf die Antwort wartete sie nicht lange, die konnte sie auch zu Hause abrufen.
Dieser blöde Alte! Am liebsten hätte er wohl die ganze Familie unter seinem Dach versammelt, um über ihr Leben zu bestimmen. Wie in so einer bescheuerten amerikanischen Familien-Soap, aber da machten die das garantiert nur, um nur eine location zu brauchen, anstatt haufenweise verschiedene Wohnungen imaginieren zu müssen. Na, bei Albert und Petra war´s ihm ja auch gelungen – apropos Petra: Die arbeitete doch auch hier? Von der hatte sie ja noch gar nichts gesehen? Was machte sie hier eigentlich? Hatte Albert nicht mal was von Finanzplanung gesagt? Sie sollte ihn fragen – nein, der war schon gar nicht mehr da. Dann eben morgen. Komisch, dass er sie auch gar nicht weiter erwähnt hatte. Offenbar verstanden sich die beiden nicht besonders.
Vielleicht kein Wunder, überlegte Ariane auf dem Weg nach draußen; wenn sie sich recht an Petra erinnerte, war sie eine selten dämliche Pute, bieder und verkniffen. Wenn eine, die genauso alt war wie sie, immer noch zu Hause wohnte, in ihrem Kinderzimmer – das musste ja auf die Seele drücken. Oder sie war eben so ein braves Töchterlein...
Ariane erinnerte sich dunkel an einen dunklen Mozartzopf, zu starke Augenbrauen und etwas speckige Hüften. Ach ja, und eine fürchterliche violette Strickjacke, ganz offensichtlich selbst verbrochen. Genau, bei diesem schrecklichen Familienessen, bei dem Onkel Albert auch versucht hatte, Daniel zu beleidigen. Überhaupt alle zu beleidigen, wenn man es genau nahm!
Was hatte Petra damals eigentlich gesagt? Ariane konnte sich nur an arrogante Blicke erinnern.
Auf dem Parkplatz stieg gerade dieser Jensen in einen Sportwagen für Arme. Ariane kannte die Marke nicht, aber sie sah sofort, dass hier einer den geldigen Macho geben wollte, der gar nichts im Kreuz hatte.
Albern.
Und da drüben stieg einer in einen anthrazitfarbenen kleinen BMW, der ihr vage bekannt vorkam. Aber He, kenn ich Sie? konnte sie jetzt auch nicht quer über den Parkplatz plärren. Morgen würde sie unter einem Vorwand einfach mal durch alle Büros streifen. Genau, eine kleine Umfrage, ob es Wünsche bezüglich der Ablage gab! Das sollte sie sowieso machen – intelligente Angestellte wussten doch meist am besten, was praktikabel war und was nicht.
Sie schloss ihren Wagen auf und ließ sich auf den Fahrersitz fallen.
Interessanter Laden, das musste man zugeben. Dass reiner Zwischenhandel heute überhaupt noch etwas einbrachte? Waren die Einzelhändler zu altmodisch, um gleich online beim Hersteller zu ordern? Arianes Ansicht nach war diese Vertriebsart langfristig zum Sterben verurteilt; wenn das Albertle mal richtig ans Ruder kam, musste er sich neue Geschäftsfelder erschließen. Egal, jetzt musste sie mal abschalten. Lieber schauen, was Michael in der Wohnung nun wieder angestellt hatte!
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