„Donnerwetter, hier hat man sich aber gut vorbereitet“, spottete Frank. „Die Definition finde ich aber trotzdem gut. Das passt auf Timbuktu. Es geht in dem Buch von Thomas Stangl also um einen westafrikanischen Mythos. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, was die Reise der beiden Entdecker mit diesem Mythos zu tun hat.“
„Das kann ich erklären“, behauptete Marcel. „Wir befinden uns in den Zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts, die Ränder Afrikas sind seit langem bekannt, sein Inneres aber nicht, vor allem nicht das große Sandmeer, die Sahara und die berühmte Stadt Timbuktu, von der sich die Europäer seit alters her Wunderdinge erzählen.“ Marcel machte eine Pause und blickte sich um. „Es geht also um einen Blick von außen“, ergänzte er. „Wir lernen diesen Mythos aus der Sicht der Europäer kennen.“
„Wie passt das zur Erzählhaltung?“ fragte Frank.
„Es passt, denn es wird vorwiegend aus der Innenperspektive der beiden Entdecker berichtet“, antwortete Marcel. „Wir haben zwei personale Erzähler, die dem Leser wechselnde Ausschnitte des Geschehens präsentieren.“
„Aber nicht nur“, warf Lothar ein. „Es gibt in dem Buch auch jede Menge neutraler Erzählpassagen, in denen aus dem off erzählt wird, etwa wenn die Schönheiten und Schecken der Wüste zur Sprache kommen.“
Marcel stimmte zu: „So sehe ich das auch. Der Roman besitzt also zwei Erzählperspektiven, eine personale und eine abgehobene Außenperspektive. So etwas geht meistens schief, aber hier funktioniert es. Der Roman funktioniert als ein mehrstimmig erzähltes Buch.“
Elke hatte aufmerksam zugehört, ohne den Interpretationsschwung der anderen zu unterbrechen. Nun wurde es ihr aber zu abstrakt. „Denkt ihr bitte auch einmal daran, dass sich nicht nur Germanisten am Tisch befinden? Personales und neutrales Erzählen, gut und schön – das will ich mir gerne merken. Aber könnt ihr das auch an einem Beispiel aus dem Buch festmachen?“
Marcel schlug das Buch auf. „Kein Problem. Was das neutrale Erzählen betrifft, brauchen wir nur auf die erste Seite zu blicken. Der Roman beginnt mit der grandiosen Beschreibung einer Wüstenstadt: ` Zunächst ist da das Bild einer Stadt ohne Menschen, niemand stellt sich den Blicken entgegen, da sind nur Häuser aus Lehm und Straßen, durch die sich der Sand schiebt in Schichten von unterschiedlicher Dichte und Festigkeit, flüchtige, weiche Muster, Schleifen und Spiralen formen sich, Riffe und Wellenkämme steigen für einen Augenblick aus der Tiefe auf, um dann zu brechen oder wieder zu versinken, die Grenze zwischen Boden und Luft verschwindet, in gelben Wolken trieben Sandkörner endlose Insektenschwärme durch die Gassen, Dünen schieben sich an die Mauern und Tore heran, klettern sie hoch.´ Das ist weder die Innenperspektive von Laing oder Gordon, sondern hier wird von Seiten des Autors neutral erzählt.“
Elke machte ein wenig überzeugtes Gesicht, schwieg aber.
„Auf der anderen Seite ist das Buch durchsetzt mit personal erzählten Passagen.“ Marcel blätterte weiter, fand eine Stelle und las: „ Durch Laub über ihn dringt für eine Sekunde ein Lichtschwall, die Sonne bricht sein kleines Schattenreich auf, er hört auf zu schreiben, er hebt den Kopf, ordnet die Sonne ins Bild ein, er sieht mit zusammengekniffenen Augen den rötlichen Feuerball über dem Fluss stehen, dann langsam, dem Lauf des Flusses entlang, nach Westen ziehen, zu dem Meer hin, von dem er vor einer unendlich langen Zeit unter einem andern Namen und als eine andere Person gekommen ist. “ Marcel blickte auf. „Hier beobachtet Rene Caillié den Sonnenaufgang über dem Niger, das ist die Innensicht des Reisenden. Und zwischen diesen beiden Erzählperspektiven, der neutralen und der personalen geht es hin und her. “
Elke nickte, obwohl sie sich ärgerte, vor allen anderen belehrt zu werden. Und wer wusste schon, ob das auch stimmte? Manchmal hatte sie das Gefühl, das die anderen ihre Theorien einfach nur aus dem Hut zauberten. Trotzdem versuchte sie, das Gespräch ins Inhaltliche zu ziehen. „Habe ich das übrigens richtig verstanden? Waren Laing und Caillié gleichzeitig unterwegs und wussten nichts voneinander?“ fragte sie.
„Sie waren nicht wirklich gleichzeitig unterwegs“, antwortete Lothar. „Gordon Laing reiste 1826, René Caillié zwei Jahre später nach Timbuktu. Sie wussten allerdings nichts voneinander. Auch ihre Routen waren ganz unterschiedlich. Laing kam vom Nordosten, Caillié vom Südwesten nach Timbuktu.“
Marcel nickte und ergänzte: „Die Ankunft in Timbuktu wird am Ende des Buches, am Ende beider Reisen, als Höhepunkt und Enttäuschung zugleich beschrieben.“ Marcel blätterte wieder im Buch, fand eine Stelle und las: „ Auf den ersten Blick, schreibt er, ist nichts zu sehen als eine Anhäufung von schlecht konstruierten Lehmbauten. In alle Richtungen breiten sich endlose Ebenen von Treibsand aus, von einem Weiß, das ins Gelb hineinspielt und von größter Kargheit. Der Himmel zeigt am Horizont ein blässliches Rot, die ganze Natur ist traurig, es herrscht tiefste Stille, nicht ein einziger Vogel lässt seinen Gesang hören. Nicht einmal eine Stadtmauer ist zu sehen, nur Schutthaufen da und dort am Rande des bewohnten Gebiets und ein Gürtel von kleinen, runden Hütten wie Iglus, in denen Sklaven wohnen.“ Marcel schlägt das Buch zu . „ Die Reise ist zu Ende, die Welt ist entzaubert.“
„Ein wenig wie der Apfel vom Baum der Erkenntnis“, überlegte Frank. „Wenn man sieht, wovon man bisher nur gehört hat, ist es immer eine Enttäuschung.“
„Auf der anderen Seite frage ich mich, warum der Autor am Ende des Buches Laing und Caillié quasi parallel durch Timbuktu laufen lässt, obwohl die beiden doch im Abstand von zwei Jahren in Timbuktu waren“, überlegte Lothar.
„Daran erkennt man, dass das Buch nicht nur eine chronologisch verfahrene, lineare Erzählung, sondern auch ein systematisches Werk ist. Das Datum spielt keine Rolle. Entscheidend ist der Ort und die mit ihm verbundene Enttäuschung“, erklärte Marcel.
Elke beugte sich vor. „Ich muss euch jetzt mal etwas Peinliches mitteilen“, begann sie. „Ich habe das Buch nicht ganz zu Ende gelesen, möchte aber nun doch wissen, wie das Buch ausgeht.“
„Ein tristes Ende“, kommentierte Marcel. „Laing und Caillié durchstreifen wie betäubt Timbuktu, den `einzigen Ort´, der sich als eine unbedeutende Lehmstadt erweist. Da sie sich auf Schritt und Tritt bedroht fühlen, reisen sie so schnell wie möglich wieder ab und versuchen, mit einer Karawane nach Marokko zu gelangen. Laing wird auf diesem Weg von fanatischen Moslems ermordet. Rene Caillié dagegen erreicht nach unsäglichen Strapazen Marokko, dann Frankreich, wo er ein sehr erfolgreiches Buch über seine Afrikareise veröffentlicht. Er starb allerdings schon bald an den gesundheitlichen Folgen seiner Reise.“ Marcel nahm einen Schluck Wein und lehnte sich zurück. „So endet das Buch, das dem Leser, das will ich gerne zugeben, einiges abverlangt.“
„Und das auch seine Längen hat“, warf Lothar ein.
„Ich würde das nicht Längen nennen“, widersprach Marcel. „Du hast ganz einfach ein ambitioniertes Werk gelesen, ein Buch, das sich mit seinen komplexen Textreliefs gegen jedes Überfliegen wehrt. Es zwingt dem Leser seinen eigenen Rhythmus auf. Möglich, dass man das als `Länge´ empfinden kann. “
Frank hatte einige Male in dem Buch geblättert, als suche er eine Stelle, es dann aber geschlossen. „Ich stimme Marcel zu“, sagte er. „Ich habe das Gefühl, ein ganz erstaunliches Buch gelesen zu haben, wobei ich auf Anhieb gar nicht sagen kann, worin die Größe dieses Buches in erster Linie besteht - abgesehen natürlich von der enormen epische Suggestion, die von dem Buch ausgeht. Vor allem in den Passagen, in denen der Leser Afrika mit Rene Cailliés Augen sieht, kam es mir so vor, als sehe ich den Niger, die Wüste oder die Karawanen leibhaftig vor mir.“
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