Titel Adrian Ambrer SCHULE DES LESENS Ein Lesekreis-Roman
Copyright Adrian Ambrer: Schule des Lesens- Ein Lesekreis-Roman _________________________________________________________________ Copyright: Adrian Ambrer 2015
Zitat „Mir ist klar, dass Menschen heute immer noch Bücher lesen, und dass es auch noch Büchernarren gibt, aber was wir 1946 im Village für Bücher empfanden, ging über Liebe hinaus. Es war, als hätten wir nicht gewusst, wo Bücher anfangen und wo sie enden. Bücher waren unser Wetter, unsere Umwelt, unsere Kleidung. Wir lasen sie nicht nur, wir wurden zu Büchern. Wir nahmen sie in uns auf und formten aus ihnen unsere Geschichten. Es wäre einfacher zu sagen, wir hätten uns in die Welt der Bücher geflüchtet, aber in Wahrheit hatten die Bücher von uns Besitz ergriffen. Bücher waren für, was die Drogen in den Sechziger für junge Männer waren.“ Anatol Broyard: Verrückt nach Kafka, Berlin, 2001, S. 41
Widmung für Thomas, Dirk und Herta, und für Silke, die wir in unseren Kreis hätten einladen sollen
DIE GRÜNDUNG DES LESEKREISES
I Foer: Alles ist erleuchtet
II Narayan: Reifeprüfung
III Oz: Eine Geschichte von Liebe und Finsternis
IV Stangl: Der einzige Ort
V Mora: Alle Tage
VI Genazino: Die Liebesblödigkeit
VII Pamuk: Schnee
VIII McEwan: Saturday
IX Kehlmann: Die Vermessung der Welt
X Shalev: Späte Familie
XI Antunes: Die Leidenschaften der Seele
XII Updike: Landleben
XIII Márquez: Leben, um davon zu erzählen
XIV Martell: Schiffbruch mit Tiger
XV Petterson: Pferde stehlen
XVI Hettche: Der Fall Arbogast
XVII Roth: Jedermann
XVIII Hollinghurst: Die Schönheitslinie
DAS ENDE DES LESEKREISES WIRFT SEINEN SCHATTEN VORAUS
DIE ENTHÜLLUNG
DIE LETZTE SITZUNG
Nachweis der Bilder und Zitate
Kleines Brevier literarischer Formalia
Über den Autor
Adrian Ambrer
SCHULE DES LESENS
Ein Lesekreis-Roman
Adrian Ambrer: Schule des Lesens- Ein Lesekreis-Roman
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Copyright: Adrian Ambrer 2015
„Mir ist klar, dass Menschen heute immer noch Bücher lesen, und dass es auch noch Büchernarren gibt, aber was wir 1946 im Village für Bücher empfanden, ging über Liebe hinaus. Es war, als hätten wir nicht gewusst, wo Bücher anfangen und wo sie enden. Bücher waren unser Wetter, unsere Umwelt, unsere Kleidung. Wir lasen sie nicht nur, wir wurden zu Büchern. Wir nahmen sie in uns auf und formten aus ihnen unsere Geschichten. Es wäre einfacher zu sagen, wir hätten uns in die Welt der Bücher geflüchtet, aber in Wahrheit hatten die Bücher von uns Besitz ergriffen. Bücher waren für, was die Drogen in den Sechziger für junge Männer waren.“
Anatol Broyard:
Verrückt nach Kafka, Berlin, 2001, S. 41
für
Thomas,
Dirk
und
Herta,
und für Silke,
die wir in unseren Kreis
hätten einladen sollen
Die Gründung des Lesekreises
Lothar Klab war das Kind einer alleinerziehenden Mutter und eines unbekannten Vaters. Er verlebte eine ungeregelte Jugend in den Hinterhöfen des Kölner Neumarktviertels und war in seiner Schulzeit die Plage seiner Lehrer. Geltungssüchtig bis in die Socken ging er auch als schlanker Hänfling keiner Prügelei aus dem Wege, bis er merkte, dass er mit Intelligenz und Schlagfertigkeit seinen Ehrgeiz im schulischen Umfeld auch ohne Klopperei befriedigen konnte. Er absolvierte eine Lehre als Industriekaufmann, studierte anschließend Betriebswirtschaftslehre, um nach dem erfolgreich bestandenen Examen zum Kummer seiner Familie auf das Lehramtsstudium umzusatteln. Einer der Gründe für diesen Wechsel war seine Entdeckung, dass ihm das Lesen eine bisher unbekannte Befriedigung verschaffte, die in der Hauptsache darin bestand, dass er während des Lesens das Gewicht seiner eigenen Person, das immer auf ihm lag, geringer wurde. Als ein Mensch, der immer mit den Knien wippte, sich durch Gesicht und Haare strich und seine Umgebung mit seinen nervösen Bewegungen irritierte, erlebte er das Lesen wie ein Herunterdimmen seiner Nervosität. Wenn er ein Buch las, das ihn interessierte, war er in der Lage, sich selbst und alles um sich herum zu vergessen, er verschwand gleichsam aus der Wirklichkeit und wurde ein glücklicher Zaungast der Literatur.
Als Lothar sein volles Mannesalter erreichte, war er noch immer schlank, trug volles, dichtes Haar, das an den Seiten bereits leicht grau wurde, besaß ein rundes Gesicht und eine gemütliche Knollennase, in der er in unbeobachteten Momenten gerne ein wenig popelte. Verheiratet war er mit einer sündhaft schönen Pharmareferentin, deren größter Vorzug darin bestand, dass ihn die anderen Kerle um diese Frau beneideten.
Leider hielt diese Ehe nur wenige Jahre, dann brannte die schöne Pharmareferentin mit einem anderen Pharmareferenten durch und ward nie mehr gesehen. Für Oberstudienrat Lothar Klab war das ein herber Tritt ins Gemächt, nicht unbedingt, weil er seine Frau so sehr geliebt hatte, sondern weil es überhaupt nicht seinem Selbstbild entsprach, jemals verlassen zu werden. Er schlief schlecht und begann immer exzessiver zu joggen, ohne dass dies sein Befinden im Trennungsjahr merklich verbessert hätte. Zum Lesen fehlte ihm plötzlich die Ruhe, allerdings merkte er, dass es ihm guttat, über sein Desaster zu schreiben, so dass er begann, über den Zusammenbruch seiner Ehe einen Roman zu verfassen. Kaum saß er am Schreibtisch über seinen Skizzen, verspürte er die glückhafte Allmacht aller Autoren, zu deren Vorrecht es gehört, die Schnürsenkel des Schicksals zusammenzufügen und zu lösen wie der liebe Gott. Vielleicht war seine Ehepleite in Wahrheit eine Chance, mutmaßte er, denn er fühlte sich so vollgepumpt mit Gedanken und Gefühlen, dass er kaum wusste, wo er anfangen sollte. Natürlich wollte er seinen Roman nicht linear erzählen - damit konnte man doch heute keinen Blumentopf mehr gewinnen - sondern gebrochen, zeitebenenverschachtelt und formal raffiniert musste es schon sein. Außerdem sollte der Leser dem Gang der Handlung aus mindestens drei unterschiedlichen Perspektiven folgen, aus der seiner Frau, aus der des Liebhabers und aus seiner eigenen, die er so selbstkritisch verfremdete, bis er als Protagonist schließlich wie ein Depp durch die Romanhandlung stolperte und am Ende starb. Anführungszeichen für die wörtliche Rede innerhalb seines Romans verboten sich von selbst, denn so was gab es nur noch in Jerry Cotton-Heften oder Perry Rhodan Romanen. Dafür waren kursive Einschübe und Anführungszeichen ohne Ende angesagt, was dem Text schon rein äußerlich etwas Aufgerautes gab.
Ein ganzes Jahr lang arbeitete er an dem Roman seiner Ehe, und als er fertig war, hatte er die Trennung von seiner Frau überwunden. Überraschend aber war, dass kein Mensch das Buch lesen wollte. Die Freunde, die er um eine kritische Lektüre bat, drucksten herum und wollten mit ihren Urteilen nicht heraus. Die Lektoren, denen er das Manuskript zur Einsicht sandte, argumentierten höflich mit einem anders ausgerichteten Verlagsprogramm. Sehr merkwürdig. Und auch ungerecht. Gab es denn nicht unendlich viel Schund auf dem Markt? Konnte es sein, dass allerlei Literaturmüll die Regale der Buchhandlungen füllte, sein Werk aber keine Chance erhalten sollte?
Aber einmal in Schwung gekommen, konnte er nicht mehr aufhören. Ein Schulroman und eine Schelmengeschichte wuchsen heran und wurden jeden Tag umfangreicher. Was immer Lothar auch sah, er schrieb es auf, um die Begebenheiten in seine Geschichten einzubauen. Das Leben musste sich direkt in die Literatur ergießen, dachte er, anderes konnte es doch gar nicht gehen. Leider wurden auf diese Weise die Handlungen immer unübersichtlicher, so dass er am Ende nicht mehr wusste, wie er seine Geschichten zu Ende bringen sollte. Als er einmal probeweise zehn Seiten eines Manuskriptes in ein anderes integrierte, ohne dass es sonderlich auffiel, erkannte er, dass er eine Pause machen musste. Vielleicht war ein Intermezzo angesagt, ein schöpferisches Moratorium von der literarischen Produktion, während dem er wieder lesen wollte - Großes und Kleines, Episches und Lyrisches, um seinen Sinn für die Nuancen, Konstrukte und Poetologie zu schärfen. Das war die Zeit, als Frank Rollter Partner für einen Lesekreis suchte und Lothar einlud, teilzunehmen.
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