Viktor Kolupajew
Die Schaukel des Eremiten
Phantastische Erzählungen
Verlag Das Neue Berlin
Zusammengestellt aus den bei „Molodaja gwardija“ erschienenen Bänden „Was einem doch alles passieren kann“, 1972, und
„Die Schaukel des Eremiten“, 1974
Aus dem Russischen von Dr. Eva-Maria Pietsch
1. Auflage dieser Ausgabe
Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1985 (1977) (deutschsprachige Ausgabe)
Umschlagentwurf: Schulz/Labowski
Printed in the German Democratic Republic
INHALT
Der Zeitungskiosk
Du meine Stadt
Das Juwel
Das allergrößte Haus
Wofür hat der Mensch gelebt?
September
Die Schaukel des Eremiten
Es war so neblig, daß man kaum zwanzig Schritte weit sehen konnte. Nur elektrische Beleuchtungen und dämmrig-trübe Scheinwerfer der Autos blinkten hin und wieder wie verwa-schene gelbe Punkte. Ein volles halbes Hundert unter Null!
Vereinzelt knirschende Schritte im Schnee, anhaltendes Hupen der Autos und sonst nur Kälte, Kälte… in Ust-Mansk, in seinen Vorstädten und Tausende von Kilometern im Umkreis.
Ich eilte vom Hotel zum Klub des Elektromotorenwerkes, wo um zwölf Uhr die Eröffnung einer Konferenz stattfinden sollte.
Kein Mensch überholte mich, denn ich lief sehr rasch, weil ich nur Sommerhosen und einen Herbstmantel trug. Die von nur ausgeatmete Luft gefror noch im selben Moment auf meinem Gesicht, die Nase war bereits völlig erstarrt, und ich wünschte, sie mit der Hand einzuhüllen. Hoffentlich würde der Frost nicht so bösartig bleiben, damit ich mein Ust-Mansk eingehend betrachten könne; ich wollte seine neuen Wohnviertel sehen, jemanden von den alten Freunden besuchen, ein Gläschen Wein trinken und im Stadtpark schlendern, um dort, wie der-einst, von den Hügeln hinunterzuschlittern, dabei die Mütze verlieren, sie dann schneebedeckt wiederfinden, dazu lachen und juchzen, mit Schneebällen werfen und allerhand Unsinn treiben. Mich verlangte nach alledem; denn ich war zehn Jahre nicht in Ust-Mansk gewesen, und vordem hatte ich dort zwanzig Jahre lang gelebt.
Mir blieben noch anderthalb Stunden. Ich wollte als erster an Ort und Stelle sein, mich aufwärmen, um dann dastehen und zuschauen zu können, wie die mit Eiszapfen behängten Menschen aus der eisigen Lufthülle ins Foyer strömen, sich die Füße abtreten, warm klopfen und sich gegenseitig die Wangen reiben würden.
„Nie kann man an diesem Kiosk eine aktuelle Zeitung bekommen“, sagte jemand, der von Kopf bis Fuß fest eingewik-kelt war, erregt, und fast hätte er mich dabei umgerannt. „Par-don!“
Ich war zur Seite gesprungen und erblickte vor mir einen Zeitungskiosk aus Glas und Plast, an dem Rauhreif-Ornamente und Spitzen glitzerten. Der ganze Kiosk leuchtete und strahlte von innen heraus und wirkte dadurch märchenhaft. Aber wie kann das die alte Frau, die hier Zeitungen verkauft, nur aushalten? Angenommen, es ist im Innern zehn Grad wärmer, dann sind das immerhin noch minus vierzig. Brrr! Wie hält sie das bloß aus? Vielleicht ist sie schon längst erfroren?
Ich beschloß, eine Zeitung zu kaufen, um später nicht bei bestimmten Vorträgen die Zeit totschlagen zu müssen. Auf mein dumpfverkrampftes Klopfen hin öffnete sich das kleine Kiosk-Fenster sofort.
„Gute Alte!“ rief ich. „Fünf Zeitungen von heute, davon eine Lokal-Ausgabe.“
„Ich bin keine gute Alte. Ich bin Katja-Katjuscha“, entgegnete mir die Stimme eines Mädchens.
„Katja-Katjuscha? Das ist ja ausgezeichnet, Katja-Katjuscha!
Nun, wie steht es mit Zeitungen, Katja-Katjuscha?“ Meine Lippen konnten das Wort „Katjuscha“ nur mit Mühe formen, aber ich wiederholte es absichtlich etliche Male.
„Ich habe niemals Zeitungen von heute.“
„Das hörte ich bereits. Und was nützen mir wohl die gestrigen? Die hab’ ich bereits gelesen.“
„Die von gestern sind auch nie da.“
„Wozu sitzen Sie dann eigentlich hier?“
„Ich verkaufe ausschließlich Zeitungen von morgen“, antwortete das Mädchen, und im Fensterchen erschien ihr Gesicht mit einer warmen Strickmütze. „Um Gottes willen! Ihre Wangen sind ja erfroren! Man muß sie sofort reiben! Haben Sie’s noch weit?“
„Bis zum Klub des Elektromotore…“
„Das schaffen Sie nicht.“
Dann ein wenig zögernd: „Kommen Sie zu mir herein. Hier ist es wann.“
„Darf man das?“
„Nun kommen Sie schon, was gibt es denn da noch zu…“
Ich drückte die Türklinke des Kiosks herunter, aber wahrscheinlich nicht kräftig genug, denn die Tür ging nicht auf.
Unentwegt hüpfte ich dabei hin und her und beklopfte meine Wangen, Ellbogen und Knie; meine Zehen waren ohnehin gefühllos geworden.
„Stärker!“ rief das Mädchen.
Ich drückte mit aller Kraft, zwängte mich mit dem sich sofort bildenden Atemdampf in das Innere des Kiosks — dort war kaum für einen Menschen Platz genug —, und dann stand ich, zum Fragezeichen gekrümmt, unentschlossen da.
„Setzen Sie sich.“ Das Mädchen wies auf einen Zeitungsstoß.
Ich ließ mich nieder und streckte meine Füße sofort den beiden elektrischen Heizkörpern entgegen.
Innen im Kiosk war es hell, warm und trocken; überdies sehr sauber und gemütlich.
„Die Wangen werden schwarz, da werden die Mädchen nicht in Liebe entflammen“, sagte sie und brach in Lachen aus.
„Reiben Sie, daß wieder Leben hineinkommt!“
Ich zog mit den Zähnen meine Handschuhe herunter und versuchte, die Finger auszustrecken. Das gelang nicht.
„Das sieht ja nicht gut aus“, meinte das Mädchen, zog ihre Fausthandschuhe aus und berührte vorsichtig mit ihren warmen Handflächen meine Wangen. Ich wehrte nicht ab. Sie fragte: „Sind Sie ein Fremder, oder gehören Sie zu den seltenen Vögeln, die absichtlich keine Winterkleidung tragen und dann jahrelang im Krankenhaus liegen?“
„Ich bin ein Fremder, Katja-Katjuscha. Eile vom Hotel zu einer Konferenz… Über die Ausbreitung von Radiowellen.“
„Aha. Darüber habe ich bereits in der Zeitung gelesen.“ Sie ließ ihre warmen Handflächen noch einige Male über meine Wangen gleiten. „Jetzt wird alles in Ordnung kommen.“
„Schönen Dank, Katja. Ich möchte mich vorstellen“, dabei hielt ich ihr meine noch nicht völlig erwärmten fünf Finger entgegen. „Dmitri Jegorow.“
Sie gab mir ebenfalls die Hand und lachte derart fröhlich, daß es auf mich ansteckend wirkte.
„Also Sie sind das, den sie auf der Konferenz in Grund und Boden kritisiert haben?“
Ich verstand nicht sofort den Sinn ihrer Worte.
„Ich habe mir noch überlegt, welche Zeitung ich zurückbehalten soll. Doch überall war dasselbe. Sie sind demnach Dmitri Jegorow, der Phantast, der vollkommen den Boden unter den Füßen verloren hat?“
„Katja, ich bin doch kein Phantast, der den Boden unter den Füßen verloren hat, sondern ich stehe ganz im Gegenteil mit beiden Beinen fest auf der Erde! Haben Sie eine Vorstellung, wie die Radiowellen in den Boden eindringen?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Na, dann werde ich es kurz erklären. Ich suche nützliche Minerale und Wasser mit Hilfe von Radiowellen, die in das Erdreich eindringen. Ohne Bohrtürme und Gesteinsproben.
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