Sie zog impulsiv meinen Kopf zu sich herunter, küßte mich auf den Mund, rannte weg und rief mir zu: „Morgen um neun!“
Ich aber blieb stehen, verwirrt und glücklich.
Am nächsten Morgen stand ich gegen sieben auf. Mein Zimmergenosse schlief noch, seine virtuosen Schnarchtöne waren meilenweit zu hören. Er hatte mir bereits nachts das Schlafen verwehrt, aber auch jetzt hatte ich in wachem Zustand nicht die Kraft, sein Gedröhne zu ertragen. Ich zog mich an, ging zum Büfett und aß Bockwurst. Dann kehrte ich ins Zimmer zurück, nahm Aktentasche und Mantel und ging ins Foyer. Im Zimmer konnte ich mich nach wie vor nicht aufhalten. Im Foyer saß ich etwa eine Stunde herum. Zu Katja sollte ich um neun kommen, es war jedoch erst acht Uhr.
Gegen halb neun hielt ich es nicht mehr länger aus und lief mit eingezogenem Kopf in den Morgenfrost hinaus. Draußen war es keine Spur milder als am Vortage, ich rannte die Straßen entlang, eingedenk meiner bitteren Erfahrung.
Der Zeitungskiosk glitzerte, als wäre er mit Diamanten besetzt, genau wie am Vortage. Ich klopfte an das Fensterchen, und statt der Begrüßung rief ich laut: „Katja-Katjuscha, ich erfriere!“
Sie antwortete mir nicht, eine zusammengeknüllte Zeitung raschelte im Innern des Kiosks, ich drückte die Türklinke hinunter und zwängte mich hinein.
Katja saß da, ihren Körper mir zugewendet, und drückte einen Stoß Zeitungen, der nach Druckerschwärze roch, an ihre Brust.
„Bin ich pünktlich? Habe ich mich nicht verspätet?“
„Keine Ahnung, schon möglich“, sagte sie kaum hörbar.
Darüber war ich ein wenig verwundert und betroffen. Sie wirkte irgendwie verstört und schien keine Lust zu haben, sich mit mir zu unterhalten. Ich fragte: „Ist etwas passiert?“
„Ja“, sagte sie. „Ich muß gleich weg.“
Ich begriff überhaupt nichts.
„Verzeih, Dmitri. Um zehn Uhr ist im Kinderheim auf der Werschininstraße ein Brand gewesen… wird ein Brand sein.
Ich muß sie warnen.“
Flüchtig blickte ich auf die Uhr. Über eine Stunde blieb noch Zeit. Bis zur Werschininstraße, wo sich das Kinderheim befand, lief man etwa zehn Minuten.
„Gibt es hier irgendwo in der Nähe ein Telefon? Man kann sie doch einfach anrufen.“
„Telefon ist im Institut für Radioelektronik. Aber vielleicht glauben sie nichts, wenn ein Anruf ankommt. Man muß hingehen.“
„Das schaffen wir noch“, sagte ich. „Hast du das schon länger gelesen?“
„Eben jetzt, als du an das Fenster geklopft hast.“
„Komm, los!“ sagte ich.
„Geh nicht mit mir mit. Das muß ich allein machen.“
„Unsinn. Sind Einzelheiten bekannt?“
„Alles bekannt“, entgegnete sie, jedoch irgendwie mit Widerwillen, als ob sie nicht antworten wollte oder etwas Unwahres spräche.
„Sind alle Kinder unversehrt?“
„Alle… Eins wäre beinahe verbrannt.“
Ich zwängte mich aus dem Kiosk, hinter mir kam Katja. Sie schloß mit dem Vorhängeschloß ab und steckte mir den Schlüssel in die Tasche. Ich war ein bißchen durcheinander und spürte den Frost nicht so stark wie fünf Minuten vorher.
Sie ergriff meine Hand, und wir rannten los. Die ersten hundert Meter schwiegen wir, dann wandte sie ihren Kopf und sah mich prüfend an. Ich versuchte zu lächeln, doch meine Lippen waren angefroren.
„Ich würde mit dir mitfahren, auch als Köchin“, sagte sie.
„Dann fahren wir! Entscheide dich!“ Diese Worte waren zwar kühn, aber in ihnen schwang etwas absolut Unheroisches mit.
„Es wär’ schön“, erwiderte sie.
„Wir fahren.“ Ich hielt sie für einen Augenblick zurück. „Es gibt gar keinen Grund, erst den Sommer abzuwarten. Wir fahren in drei Tagen los, wenn die Konferenz zu Ende ist, ja?“
Sie rümpfte auf komische Weise ihr Naschen, nickte und zog mich wieder mit sich vorwärts. Wir rannten den Kirow-Prospekt entlang. Beim Filmtheater „Oktober“ kürzten wir den Weg ab und befanden uns auf der Werschininstraße, genau gegenüber dem Kinderheim. Es war ein neuer, zweigeschossiger Ziegelbau. Die Fenster waren beleuchtet, und nichts ließ auf das bevorstehende Feuer schließen. Ich hatte sogar plötzlich den Eindruck, Katja habe sich einen Scherz mit mir erlaubt, vielleicht hatte sie mich aus irgendeinem Grunde nur prüfen wollen. Jeder Zweifel wich jedoch von mir, als sie entschlossen am Gartentor des kaum meterhohen Zaunes zog.
Das kleine Tor öffnete sich sofort mit quietschendem Ton, aber am Haupteingang hatten wir kein Glück; entweder war die Klingel nicht intakt, oder niemand hatte sie gehört. Erst als uns der Einfall kam, um das Haus herumzulaufen, überlegten wir uns, daß der Haupteingang sicherlich mit allerhand altem Kram verstellt war und man nur durch den Nebeneingang eintreten konnte.
Die Tür war nicht verschlossen, das Licht natürlich, aus Sparsamkeitsgründen, ausgeschaltet. Wir stießen uns aneinander und an den Stufen, aber wir gelangten auf den Korridor. Dort war es hell. Den Haupteingang auf der gegenüberliegenden Seite konnte man nur erraten, da er durch Gerümpelhaufen verdeckt war. Links lag die Küche. Aus dieser Richtung kam angenehmer Duft. Daneben war ein Zimmer, eine Art Speiseraum. Dort saßen auch die Kinder, langhaarig, kurzgeschoren, mit Zöpfen und mit Bubiköpfen. Zwei Erzieherinnen gingen mit Tabletts um die Tische herum. Rechts befand sich der Schlafraum. Wie es im ersten Stockwerk aussah, wußte ich natürlich nicht.
Katja steuerte sofort auf die Tür zu, wo die Kinder saßen, winkte den Frauen mit der Hand zu und fragte: „Kann ich Sie mal einen Augenblick sprechen?“
Die Erzieherinnen schauten sie verwundert an, eine von ihnen kam, nachdem sie ihr Tablett auf einem Schränkchen abgestellt hatte, zur Tür.
„Guten Tag“, sagte Katja und bat sie hinaus auf den Korridor.
„Guten Tag“, sagte auch die Frau und trat über die Schwelle.
„Bitte fragen Sie nicht, woher ich es weiß“, begann Katja.
„Ich kann es nicht vernünftig erklären… Gegen zehn Uhr wird in diesem Gebäude ein Feuer ausbrechen.“
„O weh!“ Die Frau schlug die Hände an die Brust.
„Sie müssen die Kinder anziehen und den Nachbarhäusern Bescheid geben, damit sie dort aufgenommen werden.“
„O weh“, wiederholte die Frau und rief der anderen zu: „Maria Pawlowna!“
Die Kinder hatten mit Interesse den Vorfall aufgenommen, sofort begannen sie natürlich mit Unsinn, Albernheiten und Lärm.
„Maria Pawlowna, bei uns brennt’s“, jammerte die Frau.
„Was ist los?“ fragte Maria Pawlowna streng. „Wer sind Sie denn?“
„Ich verkaufe Zeitungen, er ist Ingenieur. Um zehn Uhr wird bei Ihnen ein Feuer ausbrechen. Die Kinder müssen weggebracht werden.“
„In dieser Kälte sollen wir sie hinausführen?“ entgegnete Maria Pawlowna, abermals in strengem Ton.
„Aber es brennt doch“, flüsterte die erste Frau.
„Man muß etwas tun.“ Ich entschloß mich, ins Gespräch einzugreifen. „Haben Sie hier Telefon?“
„Haben wir“, antwortete Maria Pawlowna und machte eine Handbewegung. Das Telefon stand hinter mir.
„Er ruft die Feuerwehr, und Sie ziehen die Kinder an“, sagte Katja ruhig und mit normaler Lautstärke. Sie gab sich Mühe, überzeugend zu sprechen, damit man ihr glaubte.
Die erste Erzieherin lief unter Wehklagen in die erste Etage hinauf. Aus der Küche kam die Köchin herbei, von der Straße der Hausmeister, fast bis an die Stirn in einen Schal gehüllt. Er klopfte mit einem hölzernen Schneeschieber auf den Fußboden. Heute hatte er auf der Straße mit dem Holzgerät absolut nichts ausrichten können.
Ich wählte die Telefonnummer und sprach in den Hörer, als sich am anderen Ende jemand meldete: „Ein Wagen der Feuerwehr muß zum Kinderheim in der Werschinistraße geschickt werden.“
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