„Brennt es dort schon lange?“ erkundigte sich mein unsichtbarer Gesprächspartner geschäftsmäßig und rief jemandem zu:
„Fahr mit dem Wagen Nummer sieben hin! Was brennt eigentlich?“ Das war wieder an mich gerichtet.
„Im Moment brennt es noch nicht, aber um zehn wird’s brennen.“
„Wieder mal Witzbolde“, meinte die Stimme unzufrieden, und der Hörer wurde aufgelegt.
Ich wählte die Nummer zum zweiten Male, aber mein Gespräch endete ebenso erfolglos. Man glaubte mir nicht.
Aus der ersten Etage kamen drei Frauen herunter. Eine von ihnen war die Leiterin des Kinderheimes.
„Der Brandschutz ist bei uns in Ordnung“, sagte sie zu uns.
„Sie kommen überprüfen?“
Katja mußte noch einmal alles erklären, doch die Leiterin zog uns an eine Wand und zwang uns, die „Ordnung für die Evakuierung der Kinder bei Ausbruch eines Feuers“ durchzulesen.
Die „Ordnung“ war einfach fabelhaft, es war direkt schade, daß sie in diesem Gebäude noch nie in Aktion zu treten brauchte.
„Haben Sie wenigstens Feuerlöscher?“ fragte ich und schaute auf die Uhr. Es war kurz vor zehn.
„Ja“, sagte die Leiterin. „Das heißt, wir hatten. Hier haben sie gehangen.“ Dabei zeigte sie auf drei Stellen an der Wand, die noch dunkler waren als die übrige Fläche. „Einer davon ist mal runtergestürzt und hätte beinahe Tanjetschka Solnzewa erschlagen. Daraufhin waren wir gezwungen, die Feuerlöscher in der Scheune unterzubringen.“
Die Zeit drängte, man mußte etwas in die Wege leiten.
„Die Feuerlöscher gehören an ihren festen Platz. Weshalb sind sie nicht dort?“ murrte ich.
Das jagte der Leiterin einen Schreck ein. Wer konnte sicher sein, daß es sich hier nicht doch um eine Kontrollkommission handelte?
„Anikeitsch!“ rief sie. „Rasch, bring die Feuerlöscher her!“
Der Hausmeister stürzte nach draußen, kehrte jedoch sofort zurück, weil er keine Schlüssel bei sich hatte. Die Frauen begannen nervös herumzutüfteln, wer die Schlüssel wohl haben könnte. Anikeitsch fand sie schließlich bei sich selbst und stürzte wieder hinaus.
„Ziehen Sie die Kinder an!“ befahl Katja.
Die Erzieherinnen gehorchten ihr zögernd. Sie ließen die Kinder vom Tisch aufstehen und führten sie auf den Korridor.
Aber das geschah so mißtrauisch, als warteten alle nur darauf, daß dieser blinde Alarm im nächsten Augenblick abgeblasen würde.
Es handelte sich um etwa fünfzig Kinder; erst später wurde mir klar, daß sich im ersten Stock noch weitere hundertzwanzig befanden. Ich machte mich daran, das Gerümpel vom Haupteingang wegzuräumen. Die Schlitten warf ich gleich in den Schlafsaal, die Büchsen mit Sauerkrautresten ließ ich in die Küche rollen. Jemand versuchte, mir dabei zu helfen, aber ich schrie, man solle lieber die Kinder schneller ankleiden und sofort auf die Straße hinausbringen.
Katja rief nochmals die Feuerwehr an, und ihr glaubte man anscheinend. Unterdessen hatte ich die Hälfte des Gerümpels beiseite geräumt, jetzt mußte ich nur noch bis zur Tür gelangen, damit ich das übrige direkt auf die Straße hinauswerfen konnte. Es handelte sich dabei um Rechen, Spaten, alte Fußmatten und Eimer mit defekten Böden.
Die Köchin löschte den Küchenherd mit Wasser. Jemand versuchte, die elektrischen Heizöfen abzuschalten; sie erhielten ihren Strom allerdings von schwer zugänglichen Stellen, und die Steckdosen waren deshalb nicht sofort erreichbar. Eine Erzieherin eilte in das Kino, um zu vereinbaren, daß die Kinder dort im Foyer untergebracht werden konnten. Die Leiterin wollte uns immer noch nicht glauben. Was würde sie wohl mit uns machen, falls sich herausstellen sollte, daß diese wenn auch unorganisierten Vorbereitungen umsonst gewesen waren!
Die Tür vom Nebeneingang öffnete sich, in den Korridor stürzte der Hausmeister mit zwei Feuerlöschern in der Hand.
Er schnaufte und nieste ein paarmal, wobei er versuchte, etwas zu sagen. Schließlich gelang es ihm. „Es brennt!“ rief er, ließ noch einige deftige Worte folgen und klopfte mit einem Feuerlöscher auf den Boden. Die Feuerlöscher hatten allerdings wenig Sinn. Die Dampfwolke, die der Hausmeister in den Korridor gebracht hatte, löste sich nicht auf. Es war überhaupt kein Dampf, sondern Rauch, der mir beißend in die Augen stieg. Der Hausmeister sprang herzu, um mir beim Wegräumen zu helfen. Als der Haupteingang frei war, brannte die hölzerne Trennwand bereits.
Zwanzig Minuten später kam die Feuerwehr. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Kinder bereits im Kino.
Der Feuerwehr-Einsatzleiter war dabei, die Gründe für das ausgebrochene Feuer zu ermitteln. Die Erzieherinnen hatten sich, nach allem, was sie eben miterlebt hatten, noch nicht wieder voll in der Gewalt. Und ich raste mit einem Krankenwagen durch die Straßen und hielt Katjas kalte, feuchte Hand.
Katja hatte versucht, die umfallende hölzerne Trennwand zwischen zwei Zimmern zu halten, damit man die letzten Kinder hinausbringen konnte. Es war gelungen, sie durch den Notausgang über eine Metalltreppe auf den Hof zu schaffen.
Alle hatte man hinunterbringen können, doch ihr war es nicht geglückt, rechtzeitig beiseite zu springen, die brennende Holzwand hatte sie zu Boden gedrückt. Kurz zuvor hatte sie mir noch ein halb angezogenes kleines Mädchen in die Hand gedrückt und mir zugerufen, ich solle von der Straße her zum Fenster kommen, weil man wahrscheinlich die Kinder durch das Fenster hinausgeben müsse.
Ich hatte nicht einmal kleinste Brandwunden. Aber ihr Gesicht durfte ich nicht sehen, es war mit etwas Weißem verdeckt.
Ich saß in der Halle einer Klinik, deprimiert und ratlos. Sie hatten gesagt, es würde alles getan, was in ihren Kräften stünde. Ich machte mir klar, in welchen Fällen man so etwas sagt.
Wohl dreimal legte man mir nahe wegzugehen, weil ich absolut nicht helfen konnte und die Ärzte mit meinen Fragen nur nervös machte. Als man mich zum vierten Male aufforderte und ich trotzdem noch Argumente anbrachte, um bleiben zu können, sagte einer von den jungen Ärzten plötzlich: „Soll er etwas versuchen, wenn er helfen will. Morgen wird in den Zeitungen ein Aufruf erscheinen, heute abend wird es im Radio durchgegeben, doch vielleicht ist es schon zu spät. Sie wohnen… wo?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin fremd hier.“
„Schade. Sie haben demnach hier keine Bekannten?“
„Schon, aber sehr wenige.“
„Eine Hauttransplantation ist erforderlich. Freiwillige werden gebraucht. Etwa fünfzig Menschen. Vielleicht auch mehr.“
„Das kann ich übernehmen!“ rief ich und eilte hinaus.
Die Konferenz hatte ihre Arbeit bereits aufgenommen.
Ich war beherrscht genug, keine Panik entstehen zu lassen, und suchte meinen Institutskollegen auf. Er hörte mich schweigend an und sagte: „Kaum zu glauben. Gestern war sie noch so fröhlich.“ Er fuhr fort: „Das war richtig von dir, dich an mich zu wenden. Es wird alles getan werden. Eure Sektion werden wir gleich als erste losschicken.“
Gemeinsam mit ihm betrat ich den Raum, wo die Radiophysiker für Bodenkunde arbeiteten, und ließ mich auf den ersten besten Stuhl nieder. Mein Kollege flüsterte etwas mit dem Vorsitzenden der Kommission, dieser wartete ab, bis der Vortragende sein Referat beendet hatte, und gab daraufhin allen bekannt: „Kollegen! In der Stadt hat sich ein Unglück ereignet.
Für eine Transplantation wird Haut gebraucht. Ich denke, wir machen eine Pause und gehen gemeinsam in die Klinik. Es ist hier in der Nähe, nur zwei Straßenecken entfernt… Das Mädchen ist in Lebensgefahr.“
In einzelnen Gruppen kam nach und nach die gesamte Konferenz zur Klinik.
Gegen ein Uhr mittags erlaubte man mir immerhin, das Zimmer zu betreten, in dem Katja lag. Ein weißes Kopfkissen, eine weiße Bettdecke und statt eines Gesichtes ein Knäuel Binden; nur die schwarzen Pünktchen der Augen mit abgebrannten Wimpern und die Lippen, kaum wahrnehmbar. Ich setzte mich auf den Hocker neben dem Bett. Katja betrachtete mich ohne die geringste Bewegung. Mir blieb jedes Wort in der Kehle stecken. Gern hätte ich ihr Haar und ihre Wange gestreichelt, aber das durfte ich nicht. Ich nickte ihr nur zu und versuchte ermunternd zu lächeln. Ich weiß nicht, was sie meinem Lächeln entnahm, aber ihre Lippen bewegten sich sacht, und ich vermochte den Bewegungen abzulesen: „Die Wangen werden schwarz werden, das wird dir nicht gefallen…“
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