Von Phantasterei kann hier nicht im mindesten die Rede sein.
Ist das für Sie von Interesse?“ fragte ich.
„Freilich“, entgegnete sie. „Erzählen Sie noch ein bißchen davon. Die Konferenz fängt sowieso erst um zwölf an.“
Ich berichtete ihr, wie unsere Expedition im vergangenen Sommer in den Wasjugansker Sümpfen im Norden des Bezirkes Tomsk gearbeitet hatte. Alle Arten von Mücken hatten sich auf uns gestürzt, die Apparaturen dröhnten, die Kumpel waren verstimmt und einsilbig, aber Goschka, unser Leiter, hatte laut und lange gesungen. Man hatte ihm bedeutet, still zu sein, sich zu verziehen, ihm die Fäuste gezeigt, doch er hatte nicht aufgehört und seiner Kehle Töne entlockt, die einem durch Mark und Bein fuhren. Um das Maß voll zu machen, hatte er noch zu uns gesagt, wir seien richtige Baby-Nahrung, wackliger, pappiger Grießbrei! Aber mit diesem „Grießbrei“ waren wir nicht einzuschüchtern gewesen. Doch seine Trällerei hatte keiner mehr länger ertragen können. Irgend jemand war nach kurzem Herumdrucksen in schallendes Gelächter ausgebrochen. Da hatten es auch die anderen nicht mehr länger ausgehalten; alle hatten sie in dieses Gelächter eingestimmt und sich dabei ihre Bäuche gehalten.
„Soll ich noch eins singen?“ hatte Goschka gefragt und dann hinzugefügt: „Schon richtig, es stimmt, eben einfach richtiger Grießbrei!“
Die Mücken hatten nicht aufgehört, uns zu piesacken, die Apparaturen funktionierten nicht, und in uns war der Zorn auf uns selbst hochgestiegen, auf unsere Hilflosigkeit. Wir wollten nicht mehr „Grießbrei“ genannt werden, und wir blieben in der Taiga, obwohl man uns dreimal zurückgerufen hatte. Unsere Apparaturen arbeiteten nach wie vor nicht so, wie man es eigentlich von ihnen erwarten mußte. Darüber wunderte sich aber auch niemand besonders. Obwohl es elektrische, magnetische, gravimetrische und Strahlenmeßmethoden zur Erkundung von Lagerstätten gibt, wollten wir etwas völlig anderes: Wir wollten durch den Erdboden hindurchsehen, wie durch eine blankgeputzte Glasfläche. Die Expedition war natürlich zum Scheitern verurteilt.
„Und trotzdem ist das alles interessant gewesen“, schloß ich,
„und notwendig…“
Mir schien, als ob in ihren Augen einen Augenblick lang so etwas wie Neid aufleuchtete. Letztlich war es ja so, daß ich wenigstens etwas tat, nach etwas strebte, gescheitert war, mich wieder aufgerafft hatte und weitermachte. Sie aber saß wahrscheinlich schon das soundsovielte Jahr hier in diesem kleinen Kiosk, verkaufte Zeitungen und Ansichtskarten, rechnete ab und sah dabei immer nur die Hände von Menschen, die in ihr kleines Fenster hineingriffen, und sie versuchte nicht einmal, etwas an ihrem Los zu ändern. Ich reckte mich und machte den Vorschlag: „Katja-Katjuscha, wollen wir zusammen auf Expedition gehen?“
„Als Köchin, ja?“ fragte sie völlig ernst zurück.
„Warum denn ausgerechnet als Köchin?“ Sie hatte mich verlegen gemacht.
„Als was denn sonst?“
„Nun, zum Beispiel als…“
„Gut, ich bin einverstanden“, sagte sie.
„Ist das wahr?“
„Natürlich. Sie nehmen mich ja sowieso nicht mit. Sie machen doch nur Spaß. Außerdem ist Zeitungen verkaufen auch interessant.“
„Wahrscheinlich sogar noch weit interessanter“, entgegnete ich, wie mir schien, allzu sarkastisch. „Das ganze Leben hier herumsitzen…“
Sie war nicht gekränkt und funkelte mich mit ihren großen Augen an, aus denen der Neid verschwunden und nur Heiterkeit und Ironie geblieben waren.
Ich war bereits vollkommen durchgewärmt, hatte jedoch keine Lust zu gehen. Nicht ein einziges Mal hatte während dieser Zeit jemand ans Fensterchen geklopft. Offensichtlich verspürte bei dieser schneidenden Kälte kein Mensch Lust, Zeitungen zu kaufen.
Insgeheim tastete ich Katja mit Blicken ab. Sie war nicht groß, hatte schwarzes, unter der Mütze hervorquellendes Haar.
Ihre Augen waren ebenfalls schwarz, die Wangen ein wenig überhöht, als ob sie diese leicht und sacht aufgeblasen hätte.
An den Füßen trug sie Lederstiefelchen mit hohem Absatz, hinter dem Stuhl in der Ecke bemerkte ich ihre Filzstiefel. Ein leichter Wintermantel mit kleinem Kragen war bis zur Hälfte herumgeschlagen, in ihm steckte ein hellblauer, flauschiger Wollschal.
„Und jetzt haben Sie sich wieder in den Kampf gestürzt?“
fragte Katja lachend. „Wollen beweisen, daß Sie im Recht waren?“
„Das will ich“, entgegnete ich.
„Damit werden Sie kein Glück haben. Man wird Sie wieder als Phantasten bezeichnen, der den Boden unter den Füßen verloren hat.“
„Ach, Katja-Katjuscha“, sagte ich betrübt. „Weshalb müssen ausgerechnet Sie das sagen? Sie können das doch bestimmt nicht wissen. Es ist doch gar nicht bekannt, wer…“
Ich konnte den Satz nicht beenden, weil sie mir plötzlich eine Zeitung in die Hand schob und sagte: „Lesen Sie das.“
Flüchtig glitten meine Augen über die erste Seite. Nichts Außergewöhnliches, alles, wie es sich gehörte: gute Leistungen von Forstarbeitern und Melkerinnen, Initiativen, Wettbewerbe.
„Auf der dritten Seite“, sagte Katja.
Ich schlug die Zeitung auf und las: „In Ust-Mansk tagt eine Allunionskonferenz zur Ausbreitung von Radiowellen.“
Katja kicherte still und leise in ihren Ärmel hinein. Wahrscheinlich stand auf meinem Gesicht allzu deutlich Verwunderung geschrieben. „Am vierundzwanzigsten Dezember um zwölf Uhr wurde im Kulturhaus des Elektromotorenwerkes die Allunionskonferenz eröffnet…“
„Welches Datum haben wir heute?“ fragte ich nervös, weil ich mit Schrecken eine Erklärung dafür suchte, wo ich einen vollen Tag verloren haben konnte.
„Den Vierundzwanzigsten“, entgegnete Katja vollkommen ernst.
„Warum wird dann hier von der Konferenz-Eröffnung in der Vergangenheit gesprochen? Schließlich beginnt sie ja erst in einer Stunde!“
„Es handelt sich ja auch um die Zeitung von morgen.“
Ich drehte das Zeitungsblatt um. „Rotes Banner“, 25. Dezember.
„Ich verstehe überhaupt nichts mehr… Was für ein Datum ist heute?“
„Der Vierundzwanzigste. Was wohl sonst?“
„Gut, Katja. Verzeihen Sie mir. Mit meinem Kopf ist wahrscheinlich irgend etwas nicht in Ordnung. Möglicherweise unterkühlt.“
„Nein, keinerlei Unterkühlung. Ihr Kopf ist völlig in Ordnung. Dies ist die morgige Zeitung! Ich verkaufe fortwährend die von morgen. Nur schlecht los werde ich sie eben. Alle wollen immer die heutige. Doch Zeitungen von heute werden überhaupt nicht angeliefert.“
„Das kann nicht sein!“
Aber der Artikel vor mir handelte von unserer Konferenz.
Mein Vortrag wurde darin als Phantasiegebilde bezeichnet.
„Seltsam“, sagte ich. „Jetzt weiß ich, was mit mir in den nächsten Stunden geschieht. Wenn ich aber nun alles anders mache, als es hier geschrieben steht? Einfach nicht zur Konferenz hingehe?“
„Das ändert an der Sache gar nichts“, erwiderte Katja. „Sie haben keinen Grund dazu. Schließlich geht es nicht allein um Ihren Vortrag, nicht wahr?“
„Das stimmt.“ Für einen Augenblick stellte ich mir Goschkas verzerrte Physiognomie vor und schüttelte mich. „Es ist sicher richtig, daß man hier gar nichts ändern kann; höchstens unbedeutende Details, die in der Zeitung sowieso weggelassen werden. Das ist recht ordentlich ausgeklügelt hier bei Ihnen, Katja. Die morgigen Zeitungen verkaufen ist eben etwas anderes als die heutigen. Interessant.“
„Das soll heißen, daß Sie mich nun nicht mit auf die Expedition nehmen?“ fragte Katja spöttisch.
„Folgendes, Katja“, erwiderte ich, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Wann schließen Sie den Kiosk?“
„Um acht.“
„Ich werde Sie um halb acht abholen. Abgemacht?“
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