„Wer ist das?“ fragt sie.
„Tonya ...“, flüstert der Fremde. „Tonya ...“
Sie steht auf, um sein Gesicht besser sehen zu können; argwöhnisch starrt Antonya ihn an, dann stößt sie plötzlich einen leisen Schrei aus. Sie ist kreideweiß geworden und geht ein paar Schritte rückwärts und fällt vor Schreck in den Sessel zurück.
„Krystian?“ stammelt sie. „Krystian ... Barmherziger Gott!“ Der Fremde grinst sie weiter an und nickt. Er nickt immerzu, als könnte er gar nicht damit aufhören. Plötzlich reißt er seine Mütze vom Kopf und wirft sie auf den Boden und ergreift ungestüm ihre Hand. „Tonya“, flüstert er wie eben. „Tonya, Tonya ...“ und küsst ihre Hand.
„Krystian, wo kommst du her?“ fragt sie wie benommen und schlägt ihre Zähne in die Faust.
Er hebt die Achseln. „Von überall und nirgends ...“
„Von überall und nirgends“, wiederholt sie, als wäre sie nun im Bilde. Sie hat sich wieder erhoben und ist ein wenig zur Seite getreten, aus angstvollen Augen betrachtet sie den Bruder und schüttelt immerzu ungläubig den Kopf.
„Wie du aussiehst!“
„Erschreckend, nicht wahr? So ist es, wenn man die Gesellschaft wechselt, Schwester.“ Wieder nimmt er ihre Hand, um sie auf seine Brust zu drücken, auf diesen zerschlissenen und verdreckten Mantel. „Tonya, ich brauche Hilfe.“
„Hilfe, ja ... Brauchst du ein Versteck?“ fragt sie.
Wieder nickt der Mann.
„Wie sollen wir dich hier verstecken, Krystian? Unsere Leute wissen, dass du hergekommen bist?“
„Die meisten wissen es“, antwortet ihr Mann. „Aber sie haben ihn für einen Einbrecher gehalten und eingesperrt. Weißt du“, sagt Stanislaus nach kurzem Überlegen, „wir sagen ihnen, er sei wirklich ein Einbrecher ...“
„Den wir so mir nichts, dir nichts einfach wieder laufen lassen?“ Über Antonyas Nasenwurzel erscheinen die scharfen steilen Falten, die sie immer dann bekommt, wenn sie angestrengt nachdenkt, oder wenn sie unwillig oder böse wird.
„Lass mich das machen“, rät Stanislaus, der sich insgeheim darüber freut und eine gewisse Genugtuung verspürt, seine Frau nach dem Streit wegen der Halina in dieser misslichen Lage zu sehen und ihr helfen und beistehen zu können, und außerdem wird sie die Sache mit dem Küchenmädchen vergessen. Er sagt: „Ich werde den Krystian fürs erste in der Fabrik unterbringen. Dann werden wir weitersehen.“
„Wissen die Eltern, dass du hier bist?“ fragt Antonya.
Der Mann lächelt sie an. „Aber nein. Wie könnte ich sie in Gefahr bringen? Die wissen nichts von mir! Gar nichts. Die halten mich doch für tot, glaube ich. Oder sie denken, ich sitze im Zuchthaus, oder ich bin in der Verbannung.“
„Was hast du denn diesmal angestellt, Krystian?“
Wieder lächelt er. „Was ich tun muss, Tonya, das weißt du doch. Eine Sache, die jedem guten Polen zur Ehre gereicht, wenn sie gelingt, Tonya. Wenn du es wissen willst: eine Bombe auf den Großfürsten geworfen. Leider ging es daneben, leider.“
„Du großer Gott! Warst du allein?“
„Allein, Tonya, sind wir nicht, weil wir allein nichts sind. Wir Polen sind nur stark, wenn wir uns vereinigen und auf unser Ziel einschwören. Alle Polen müssen sich vereinigen und für die heilige Sache kämpfen, Tonya. Nicht nur die Jungen. Nicht nur die Intellektuellen, Tonya, alle ... Hörst du: alle!“
Antonya winkt ab. Sie ist dicht an den Bruder herangetreten, dass einer den Atem des anderen spürt. Sie reckt sich auf die Zehenspitzen und drückt wie eingeschüchtert einen Kuss auf Krystians Stirn.
„Krystian“, sagt sie leise, und dabei nimmt sie sein stoppeliges Gesicht in die Hände. „Krystian, Krystian, wie unselig, dass du von solchen Gedanken besessen bist! Vielleicht reibt ihr euch vergeblich auf, und euer Leben opfert ihr auch vergeblich. Glaube mir, die Zeit wird das lösen, was ihr nicht lösen könnt. Du machst nicht nur dich unglücklich, Krystian, du machst uns alle unglücklich. Unsere Eltern leiden. Sie werden darüber sterben, Krystian ... Wo du gehst, da ziehst du eine Blutspur. Das wird dich verderben, das wird deine Genossen verderben und auch uns. Was habt ihr dann erreicht?“
Und plötzlich schlingt sie ihre Arme so wild um seinen Nacken, dass der Mann erschreckt zurückweicht.
„Ein Versteck, Tonya, nur für diesen Tag. In der Dunkelheit werde ich wieder verschwinden. Helft mir, nur dieses Mal.“
„Damit, dass du hier aufgetaucht bist, hast du uns in eine schlimme Sache hineingezogen, Krystian.“
Krystian hebt die Schultern. „Ja, ich weiß, ich weiß. Was soll ich denn machen, Tonya?“
„Wir müssen etwas tun“, mahnt Stanislaus. „Wegen der Leute müssen wir etwas tun! Komm, Schwager, ich bringe dich in ein Versteck. – Hier hat dich niemand erkannt. Ich werde dich wie einen Schurken, wie einen erwischten Dieb aus dem Haus fahren und allen sagen, dass ich dich der Polizei übergeben werde. Und du, Tonya, sagst es ihnen auch. Komm, Krystian!“
„Tonya, leb wohl! Leb wohl. Grüße die Eltern von mir. Es wird sie freuen, dass du mich lebend gesehen hast. Leb wohl ...“
Stanislaus fasst Krystian beim Handgelenk und führt ihn aus dem Haus. Antonya hält ihn verzweifelt am Arm fest, sie schlingt, als er sich losmachen will, wieder ihre Arme um seinen Nacken und weint laut auf.
„So sei doch vorsichtig!“ mahnt ihr Mann. „Wenn dich jemand hört!“
Der Krystian biegt ihre Arme wie bei einer Puppe nach unten und drängt sich an seinem Schwager vorbei ins Treppenhaus.
Antonya blickt ihnen von der Treppe nach, bis die Tür ins Schloss fällt. Dann geht sie über den Flur, um mit Amalie und Jendrik über diese Angelegenheit zu sprechen.
Vor dem Salon zögert sie. Soll sie, so benommen wie sie sich fühlt, zu den Verwandten gehen? Was soll sie denen sagen?
Sie hört die Kinder, sie hört auch gedämpfte Gesprächsfetzen der Erwachsenen. Zittern überfällt sie; wenn sie doch weggehen und für sich allein sein könnte. Sie öffnet die Tür, ohne es gewollt zu haben.
„Was ist denn passiert?“ ruft Amalie. „Antonya, wie du aussiehst! Was ist denn?“
„Der Krystian“, stammelt sie. „Er ist hergekommen. Nein, er ist gegangen ...“
„Der Krystian?“ fragen beide. „Dein Bruder?“
Antoniya nickt und lässt sich gegen die Wand fallen.
„Warte mal!“ Amalie steht auf, um die Kinder aus dem Zimmer zu bringen.
Jendrik nimmt ihre Hand und streichelt sie. „Es kann nur gut sein, wenn die nicht alles mit anhören“, sagt er und rückt der Schwägerin einen Stuhl hin. „Setz dich, du bist ja wie vor den Kopf geschlagen. Nein ... Also der Krystian ...“ murmelt er fassungslos.
Amalie ist schon eine Weile wieder bei ihnen, da beginnt Antonya stockend zu erzählen. Sie berichtet, wie sie ihn nicht erkannt habe, wie er aussieht, wie besessen er immer noch von dem Gedanken ist, für Polen zu kämpfen.
„Nicht nur zu kämpfen!“ ruft sie. „Zu sterben! Mit den anderen! Er hat ein Attentat auf den Großfürsten versucht, dieser Idiot! David gegen Goliath! Wird das was ändern? Nichts! Ich sage: nichts! Es wird die Situation nur verschlimmern!“
Antonyas Betroffenheit, ihre Angst um den Bruder schlägt in Wut um. Ihre Hände knetend läuft sie durch den Salon. „Was können wir tun? Nichts! Wir können nur hinsehen oder wegsehen. Ein Besessener ist nicht zu retten! Nein, er muss an seiner Besessenheit zugrunde gehen.“
Sie bleibt vor den Verwandten stehen. „Bedenken die Schufte denn nicht, dass ihr Treiben auch über Andere Leid bringt? Oder Unglück? Unsere Eltern ... Die dürfen nichts erfahren. Er will, dass ich sie grüße! Für die Alten ist er schon lange tot! Grüßen ... Kein Wort werde ich davon sagen! Jetzt nicht. Vielleicht später. Aber das weiß ich noch nicht!“
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