Mit aller Härte war damals gegen die Aufständischen und gegen jeden, den man dafür hielt, vorgegangen worden. Ein Heer von Soldaten und von Spionen hatte das Land überzogen, um mit Verhaftungen und Hinrichtungen und dem Verwüsten von Höfen und ganzen Dörfern den patriotischen Gedanken der Polen und ihrer Sympathisanten auszumerzen.
Vielfach versuchten die Russen, Misstrauen und Hass zu säen zwischen der polnischen und der deutschstämmigen Bevölkerung, und sie versuchten durch hohe Belohnungen die Deutschen dazu zu bewegen, ihr Mitwissen über geheime Verschwörungen von Widerstandskämpfern und Anarchisten preiszugeben und an deren Ergreifung mitzuwirken.
„Wir leben im Lande unserer polnischen Brüder, ihr Schicksal ist unser Schicksal, ihr Leid ist unser Leid, ihre Sehnsucht nach Freiheit ist auch unsere Sehnsucht!“ So konnte man es am letzten Maisonntag von den Kanzeln vieler deutscher Kirchen hören, und eine aufmerksame und bereite Gemeinde pflichtete dem Prediger bei; sie tat es durch Nicken oder Seufzen oder auch schon einmal durch zustimmendes Gemurmel.
„Durch die polnische Erde, die uns alle nährt und am Leben erhält, sind wir miteinander verbunden. Und diese Erde ist der Schoß, aus dem wir gekommen sind und zu dem wir zurückkehren werden. Sie ist nicht nur die Mutter der Polen, sie ist auch unsere Mutter. Somit sind Polen und wir, deren Väter dieses Land zu ihrer und zu unserer Heimat erwählt haben, Brüder; und wenn ein Bruder leidet, dann leiden die anderen Brüder mit. Hat ein Bruder Anlass zur Freude, dann teilt er auch sie mit seinen Brüdern ...“
Der junge Prediger ist erregt; er ist nach und nach in Hitze gekommen. Seine Erregung ist so groß, dass er mehrmals mit der Faust auf die breite Brüstung der Kanzel schlägt und dass er, mit dem Finger durch seinen Hemdkragen fahrend, sich Luft verschaffen muss.
Manchmal bohrt sich sein Blick in das Gesicht des einen oder anderen fremden Gottesdienstbesuchers, weil es nicht die Spur einer Gemütsbewegung erkennen lässt, und in dem jungen und heftigen Prediger der Verdacht aufkommt, dass da ein Schnüffler an der Säule lehnt oder sich in die harte Kirchenbank gequetscht hat; vielleicht ist es sogar jemand von der geheimen Polizei.
Wenn er doch seine Gemeinde schon besser kennen würde! Wenn er von seinem Vorgänger Informationen bekommen hätte! Aber den haben die Pferde, aufgeschreckt von irgendeinem Tier, mit seiner Kutsche, aus der er sich, wohl wegen seiner Dickleibigkeit, nicht befreien konnte, geradeswegs in die Warthe gefahren, wo er mitsamt dem Gespann ertrunken ist. Daraufhin hat das Konsistorium ihn in diese Stadt entsandt, in der er mehr Deutsch als Polnisch auf der Straße hören kann.
Zum Ende des Gottesdienstes singt die Gemeinde: ’Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten‘. Sie singt es laut wie eine kampfbereite Bruderschaft, die einen bemerkenswerten Entschluss gefasst hat und ihn jetzt einem weiten Umkreis mitteilt.
Unangemessen schnell, keck und aufrecht, nicht mit jenem feierlichen Ernst und demütig gesenktem Kopf, wie es der Anstand fordert, und wie die Gemeinde es bei ihrem verunglückten Pastor sah, ist der junge Pastor bei diesem Choral in die Sakristei geeilt; findet die Gemeinde.
Nach dem Gottesdienst bleiben Männer und Frauen noch, wie sie es nach jedem Gottesdienst zu halten pflegen, auf dem Platz vor der Kirche beisammen.
„Mut, ja, das ist ein Vorrecht der Jungen“, behauptet, seinen Bart zwirbelnd, Heinrich von Lehndeckel, der pensionierte Lehrer, den die Predigt offensichtlich aufgewühlt und erregt und die ihm eingeheizt hat, denn er betupft unablässig Stirn und Glatze mit einem auffallenden Taschentuch.
„Uns fehlen Leute, die so unverhohlen Farbe bekennen.“ sagt er in die Runde, und dabei wippt er auf den Zehenspitzen und nimmt eine Haltung ein, wie die Gemeinde sie vorhin beim Pastor in der Kanzel gesehen hat.
„Nun ja, das mag schon stimmen“, sagt der Hufschmied Nagelschur und gibt sofort zu bedenken: „Aber man wagt damit doch allerhand. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für die, die einem anvertraut sind, nicht wahr? Selbst für jene kann es gefährlich werden, die solchem Redner zuhören. Das kennen wir doch alle!“ Und dabei blickt er Herrn von Lehndeckel herausfordernd mit schrägem Kopf an.
„Ja, ja, das kennen wir ...“ Die Älteren und Alten nicken.
„Wir haben schlimme Zeiten hinter uns“, meldet sich ein zahnloser, faltiger Greis. „Warum soll man sie durch Unvorsichtigkeit wieder heraufbeschwören?“
„Was wollt ihr denn bewahren? Ungerechtigkeit? Unterdrückung? Verrat?“, ereifert sich Herr von Lehndeckel. „Mit solcher Vorsicht bewahrt ihr doch nur diese miserablen Zustände! Offenheit ist gefragt! Mut!“
Sie streiten ein wenig, während ihre Frauen beratschlagen, wie sie durch Liebesgaben die vielfältige Not, vor allem unter den Alten und den verarmten Fabrikarbeitern lindern können.
„Wissen Sie, wir sollten einen Hülfsverein ins Leben rufen“, schlägt Frau von Lehndeckel vor, deren behandschuhten Hände immer mit einem weißen Spitzentüchlein wedeln. „Einen richtigen Verein. Mit Satzungen, mit einem Vorstand und einer, die die Kasse verwaltet. Eben mit allem, was dazugehört.“
Keine der Damen hat Einwände, sie haben auch nichts zu bedenken – nein, sie sind von diesem Vorschlag geradezu hingerissen. Eine steckt die andere mit ihrer Begeisterung und ihrem Eifer an. Sofort treten diejenigen vor, die von ihren Fähigkeiten und Talenten für diese Aufgabe überzeugt sind.
Die Frau des Kantors, die für sich keine Chancen sieht und die den Hülfsverein nicht allein in den Händen dieser Damen sehen möchte, schlägt vor: „Wer von uns wäre geeigneter, meine Damen, als die Frau Pastor Wohlgethan? Wir haben nicht nur einen unerschrockenen Pastor, wie wir es soeben erlebt haben, wir haben auch eine recht couragierte Pastorenfrau Die wird mit Geschick und Beharrlichkeit die Dinge angehen. Und mutig, meine Damen, ist sie wie ihr Mann!“
Mit einem vielsagenden Lächeln fügt sie in Richtung von Frau von Lehndeckel hinzu: „Es ist wahr: Mut, das ist ein Vorrecht der Jungen. Und sie ist jung und besitzt beides! Ich sage Ihnen: Die Frau Pastor Wohlgethan hat ihr Herz auf dem rechten Fleck!. Somit, meine ich, ist sie goldrichtig für diese Aufgabe. Sehen Sie das anders?“
Sie wiegen, Zweifel, vielleicht auch Billigung ausdrückend, ihren Kopf: die meisten haben ihn unter Tüchern versteckt, die vornehmen Damen tragen Kapotthüte, wie Frau von Lehndeckel, deren rundes, rosiges Gesichtchen einer reifen Frucht gleicht, die dabei ist, die sie umgebende Schale zu sprengen.
Die Kantorin deutet es als Billigung. „Also, dann ist diese Sache ja entschieden“, sagt sie schnell, um den Plan unumgänglich auf den Punkt zu bringen. „Kommen Sie, wir gehen zu ihr. Ach, da drüben steht sie ja.“
Frau Pastor Wohlgethan ist eine bleiche und hohlwangige Frau, die aus der Nähe erschreckend alt aussieht. Ihr etwas kümmerlicher Kopf wird von einem üppigen Haarknoten in den Nacken gezogen. Wenn sie spricht, dann formt sich der nicht gerade kleine Mund zu einer faltigen Kirsche und die Augen verengen sich, als würden sie geblendet oder als müsse sie jeden, der sich in ihre Nähe wagt, bis auf die Knochen prüfen.
„Frau Pastor Wohlgethan, diese Damen hier tragen sich mit der Absicht ...“, beginnt die Kantorin.
Pastorin Wohlgethan unterbricht die Kantorin mit einem hart klingenden: „Guten Morgen“, und streckt jeder der sie umringenden Damen ihre mit einem außergewöhnlichen Granatring geschmückte Hand hin. Die Pastorin wirkt stolz; obwohl sie nicht groß ist, blickt sie doch gleichsam auf jeden herab, wenn sie mit ihm spricht. Ihre Geduld, ihr Zuhören hat etwas von einer kalten und schonungslosen Prüfung an sich. Der ausdruckslose Blick und die unbewegte Miene verwirrt ihr Gegenüber, man verhaspelt sich schnell und will das, was man vorzubringen hat, schleunigst loswerden. Nur die Kantorin bewahrt ihre Natürlichkeit und Ruhe, sie scheint mit der Art dieser Frau vertraut zu sein, oder sie beachtet sie ganz einfach nicht.
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