Wilhelm Thöring - Die Bärin Roman

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"Was wir erlebt haben, das hat uns bis ins Innere verändert. Ich habe Entscheidungen getroffen, die ich nicht hätte treffen dürfen. Die Eltern haben mir den Namen Ursula gegeben, ohne zu wissen, was dieser Name bedeutet. Und oft genug habe ich wie eine Bärin sein müssen, lauernd und immer bereit zu kämp-fen." Das bekennt Ursula ter Linden, die Hauptfigur des Romans, rückschauend im Gespräch mit Pastor Mildenberg beim Tod ihrer Mutter.
Der Roman umfasst die Zeitspanne vom Frühjahr 1945 bis etwa Mitte der fünfziger Jahre. Geschildert wird paradigmatisch das Schicksal der allein stehenden Mutter Ursula Andreae. Ihre drei Kinder muss sie allein durchbringen in der furchtbaren Zeit unmittelbar nach der Kapitulation Deutschlands, da man in zerbomb-ten Häusern und Kellern Unterschlupf suchte und später, in der sich neu etablierenden Bundesrepublik. Von ihrem Mann weiß sie anfänglich nichts; ihren schweren Alltag bewältigt sie zwischen Hoffen und Bangen. Ein Kriegskamerad ihres Mannes überbringt Ursula schließlich die Nachricht vom Tod Reinhold Andreaes; unter welch grausamen Umständen er auf der Flucht von der Ostfront in Tschechien umgekom-men ist, berichtet er zwar ihrem Vater, sie selbst aber verschont er damit.
Die Zeit, die sie als Kriegswitwe durchlebt, lässt sie hart werden, macht sie unempfänglich für Hilfsange-bote und Liebesbezeigungen. In dem kriegsversehrten Hans ter Linden findet sie einen feinfühligen Freund und Liebhaber, die Ehe mit ihm scheitert aber nach kurzer Zeit, weil beide nicht mit ihren Verletzungen zurande kommen, er nicht mit seiner äußeren und der daraus resultierenden inneren Verletzlichkeit, sie nicht mit der Überforderung in der Bewältigung des täglichen Lebens. Insbesondere die Erziehung der beiden Jungen und ihre emotionale Beziehung zu ihnen gestaltet sich für sie schwierig: Die Worte ihres ungeliebten Schwagers, die Jungen brauchten "jemanden, der ihnen zeigt, wo es langgeht. – Du bist eine Frau, Ursula.

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Wilhelm Thöring

Die Bärin

Ein Frauenschicksal der Nachkriegszeit

Roman

Die Bärin

Ein Frauenschicksal der Nachkriegszeit

Wilhelm Thöring

Copyright: © 2013 Wilhelm Thöring

Cover-Design: Aiga J. Janning

Foto: Photocase / table

Published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de978-3-8442-4691-3

Prolog

Erlöst atmeten die Menschen in diesem Frühjahr neunzehnhundertfünfundvierzig auf, als es schließlich still geworden war. Fortdauernde Stille waren sie nicht gewohnt, und so sprachen sie von einer Friedhofsstille und wussten nicht, was sie davon halten sollten und was danach kommen würde. Wie wird es mit uns weitergehen, so dachten und fragten sie untereinander. Aus ihren Fenstern wehten eine Zeit lang weiße Laken oder Tischtücher, und das andere Tuch, das rote mit dem Hakenkreuz, das sie in den vergangenen Jahren heraushängen mussten, das arbeiteten sie zu Wäsche oder anderem um. Sie fühlten sich befreit, und sie sahen zweifelnd, jedoch ohne Angst auf das, was nach diesen Jahren kommen würde. Auch wenn sie sich in einem zerstörten Land zurechtfinden mussten, in dem alle Ordnung daniederlag und die alten Gesetze nicht mehr galten, weil andere das Sagen und neue Weisungen beschlossen hatten und streng auf die Einhaltung dessen achteten, was sie verfügten. Fremde, mit denen man es zu tun bekam, wurden misstrauisch beäugt, weil man nicht wusste, auf welcher Seite die einmal standen. Das, was sie jetzt erlebten, war noch nicht die ersehnte Freiheit, auch wenn es keinen Bomben-und Parteiterror mehr gab. Die Stille, die sich auf die Menschen legte und sie selbst still machte, ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Denn diese Stille glich einer Leere. Auf vielen lag etwas, das ihnen den Hals zuschnürte, ihnen das Aufatmen schwer machte und sie mit Sorgen erfüllte und sie fragen ließ, ob ein geregeltes und geordnetes, wenn auch bescheidenes Leben, ein Leben in Sicherheit und Normalität überhaupt noch einmal im Bereich des Möglichen liegen würde.

Sie hatten sich einzurichten in einem persönlichen und allgemeinen Durcheinander. Mit dem Ende der Sperrstunden wurde es lebhafter, manchmal laut auf den Straßen, es wurde gerufen, geschrien, gezankt und geraubt, es wurde geklagt, geweint und getrauert, auch gestorben. Und nicht immer wurde der, der unter den Strapazen und Entbehrungen sein Leben verloren hatte, betrauert. Man tat mit ihm, was schicklich war – und tröstete sich mit den Worten: Wieder einer, der es hinter sich hat. Warum sollte er betrauert werden? Er war zu beneiden, so fanden nicht wenige! Millionenfach ist in der Vergangenheit gestorben worden, elender und bestialischer als hier auf der Straße zwischen Trümmern und Schutt und unter den Augen Umhergetriebener. Wer davongekommen war, dessen Gedanken kamen nicht los vom Fressen, weil der Magen Tag und Nacht brannte und bohrte und keine Ruhe gab; die Gedanken vieler kreisten um eine Bleibe, wo sie sich ausstrecken und ein wenig erholen konnten, wo sie Schutz fanden vor Regen und stechender Sonne, vor der Habgier des Stärkeren, der nach allem schielt, was der andere gerettet hat. Vor allem aber, unablässig, beschäftigte der Gedanke ans Essen die Gemüter und machte die Menschen unruhig und umtriebig.

Die Heimsuchung ist vorüber, doch was ist anders geworden? Nicht nur das Land und seine Städte sind geschändet, geschändet ist auch der Mensch, verwundet an Leib und Seele, und er fragt sich, ob es noch Sinn macht, sich einer solchen Ausweglosigkeit zu stellen und ein Kreuz auf sich zu nehmen, unter dem er am Ende nur zusammenbrechen wird. Andere wiederum entwickeln Kräfte, die sie über sich selbst hinauswachsen lassen, so dass mancher geneigt ist zu glauben, sie wären in ihrem Tatendrang, wären in ihrem Leben eingeschnürt gewesen. Die waren die ersten, die hervorkrochen, wenn die Sperrstunde vorüber war, die geschäftig bald hier, bald da zu sehen und zu hören waren und die es drängte, das Normale wieder auferstehen zu lassen. Um das zu erreichen, scheuten sie nichts, nicht einmal Unerlaubtes. Was sie trieb, das waren ihr starker Wille und ihre Entschlossenheit, dass die Welt in ihren alten und bewährten Zustand zurückversetzt werden müsste.

Frauen waren es und Mütter, die von einer geheimnisvollen Kraft getrieben wurden; die, die ihre Kinder in eine andere Welt hineingeboren hatten und die jetzt alles daransetzten, ihnen diese verlorene und untergegangene Welt neu zu schaffen. Frauen und Mütter mit Visionen, denen die Männer und Söhne genommen und vor einen Feind gestellt, die in fremde Erde gelegt oder verschleppt wurden in Strafgefangenenlager am äußersten Ende der Welt. Diese Frauen haben in doppelter Verantwortung Zukunft zu bauen: als Mutter und als Vater. Sie sind hart geworden, und wenn sie bestehen wollen, müssen sie hart bleiben: hart gegen sich selbst, gegen andere und hart gegen die, für die sie alles einsetzen.

Gekleidet in Strickjacke oder Mantel, wenn sie einen hat, an den Füßen polternde und scheuernde Holzpantinen, so huscht die Frau in den Trümmern herum, schleicht über den Schwarzmarkt und sucht die Nähe der Besatzungssoldaten. Wer Glück hat, lässt sich in einer verlassenen Wohnung nieder; die Erfolglose ist mit einem Erdloch zufrieden, in dem sie halbwegs trocken und windgeschützt unterschlüpfen und sich verstecken kann, und sie dankt Gott, dass sie nicht als Vertriebene mit wenigen Habseligkeiten von Ort zu Ort ziehen muss und fußlahme Kinder und Eltern im Schlepp hat.

Ja, wenn es gelingen sollte, die Vision von einer neuen und besseren, einer lebenswerten Welt Wirklichkeit werden zu lassen, wenn es gelingt, für sich selbst und die Kinder Zukunft aufzubauen – dann ist es diese zähe und harte Frau in ihrer elenden Schäbigkeit, die Frau mit ihrem zu kurz gekommenen Leben, die die Last trägt, für eine Generation Mutter und Vater zugleich sein zu müssen.

Kapitel 1

Der Geruch von Staub hat Ursula Andreae geweckt. Er liegt in einer dicken Schicht auf ihr und auf der Decke und brennt in der Nase. Sie kann sehen, wie der Wind ihn durch die Spalten um die Tür bis in den Winkel weht, in dem sie schlafen. Sie liegt zwischen ihren Kindern im Keller des zerbombten Hauses, so wie Tiere sich in Erdhöhlen verkriechen und auf die Zeit warten, die ihre Zeit ist. Hinten in der Ecke, wo es nicht durchregnet und nicht so sehr zieht, hat sie aus den umliegenden ausgebombten Wohnungen zusammengetragene Matratzen aufgeschichtet, auf denen sie mit ihren Kindern in diesem Keller schläft. Die Decken wärmen nicht. Seit Stunden liegt Wolfgang, ihr Ältester, auf ihrem Arm und sie fühlt sich, als hielte er sie gefangen. Einen Keller kann man diese Höhle nicht nennen – es ist ein dreckiges Loch zwischen Schutt, zersplittertem Holz und dem, was sie in den vergangenen Wochen, nachdem sie ausgebombt war, zusammengetragen hat. Ein Tisch ist da, mit einem zur Hälfte abgebrochenen Bein, unter das sie Steine gestapelt hat; seine Linoleumplatte zeigt große Löcher. Dazu besitzt sie drei verschiedene Stühle und ein paar Bretter, die sie mit Hilfe von Ziegelsteinen zu einem Regal zusammengestellt hat, in dem vier Blechtassen, zusammengesuchtes Geschirr und Besteck, zwei verbeulte Töpfe, eine Bratpfanne und ein Wasserkessel, eine brauchbare Kaffeemühle sowie ein paar Gläser mit Eingemachtem stehen, die sie hier im Keller gefunden hat.

Sie liegt reglos, um die Kinder nicht zu wecken. Durch die Scheibe der behelfsmäßigen Tür fällt Sonnenlicht: Ein gutes Zeichen, denkt Ursula, denn heute werden ihre Eltern zu ihr herüberkommen. Sie hausen mit vielen anderen Menschen in einer kleinen Wohnung, wo es Diebereien gibt, ständig Streit und auch Handgreiflichkeiten, und wo einer dem anderen das Leben schwer macht. Das sei die reine Hölle, sagten sie, und sie werden gehen und künftig bei ihr wohnen. Über aller Trostlosigkeit, nach den grauen und kalten Tagen zeigt wenigstens der Himmel heute ein freundliches Gesicht und lässt in ihr Freude und Hoffnung aufglimmen. Wenn die Eltern da sind, dann werden sie sich nach einer richtigen Wohnung umsehen. Der Vater ist geschickt, und er versteht es, zu reparieren und vieles von dem anzufertigen, was zum Leben notwendig ist. Auch gibt es mehr Sicherheit, wenn noch zwei Erwachsene dazukommen.

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