Wilhelm Thöring - Raju und Barbara

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Der Roman «Raju und Barbara» schildert die Problematik einer interkulturellen, kinderlosen Ehe zwischen einer deutschen Frau und einem indischen Mann. Nach erfolgreichen und glücklichen Jahren in Deutschland entschließen sie sich am Ende ihres Berufslebens, ihren Lebensabend in Indien zu verbringen.
Der Reiz des exotisch Fremden, die Annehmlichkeiten des Lebens, die sich Barbara und Raju Sharma als gut situiertes deutsches Paar in Indien schaffen können – sie bewohnen am Rande von Kolkata ein großzügiges Haus in einem weiten, von einer Mauer umfriedeten Garten, von indischem Personal bei allen täglichen Arbeiten unterstützt, leisten sich ein Auto mit Fahrer – werden schon bald von Konflikten durchzogen. Ausgelöst werden sie durch die kulturell bedingten unterschiedlichen Lebensweisen und Wertvorstellungen, vor allem aber durch die festgefügten indischen Familienstrukturen:
Bereitwillig hat Barbara zugestimmt, den alten Eltern Rajus in ihrem Haus zwei Zimmer mit Bad und indischer Toilette einzuräumen. Das Zusammenleben unter einem Dach führt aber täglich zu kulturellen Missverständnissen, noch befördert durch die unterschiedlichen Sprachen. Babara und Raju sprechen miteinander Deutsch, wenn sie die Eltern einbeziehen wollen, müssen sie ins Englische wechseln, und wenn die Eltern sich bei Raju über das ihrer Ansicht nach unangemessene Verhalten der Schwiegertochter beklagen, reden sie Bengali, so dass Barbara sich ausgeschlossen fühlt.
Als Rajus älterer Bruder an Krebs erkrankt und Raju ihn aus Pflichtgefühl in ihr Haus aufnimmt und pflegt, scheint beider Traum von einem «ruhigen Lebensabend» in unzumutbaren Belastungen zum Albtraum zu werden.
Die Aufnahme des kleinen verkrüppelten Betteljungen Pravin, den Raju aus den Klauen seines brutalen Vaters rettet und den sie wie einen leiblichen Sohn umhegen und erziehen, erleben beide als eine belebende, ihre Beziehung stützende Aufgabe.

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Wilhelm Thöring

Raju und Barbara

Roman

Imprint:

Raju und Barbara

Wilhelm Thöring

Copyright: © 2013 Wilhelm Thöring

Covergestaltung: Aiga J. Janning

Foto: Jürgen Janning

Published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN: 978-3-8442-4441-0

Prolog

Gibt es eine vergleichbare Stadt wie Kolkata, wie die Inder diesen alles erstickenden Moloch wieder nennen? Kolkata, das überkocht vor Dreck und Gestank und Getriebensein; Kolkata, wo es nicht möglich ist, weit in die Straßen hineinzusehen. Die endlosen Häuserzeilen links und rechts zerfließen, sie lösen sich in zähem, gräulichem Dunst auf; kein Himmel, keine Wolken, nichts als rauchiger, erstickender Nebel, der mit Lärm und Gestank an diesem Ort sichtbar wird, der mit Hitze, Staub und Dreck die Stadt zerfrisst, wie Krebsgeschwülste gesundes Gewebe zerfressen, wie sie Leben zerfressen. Kolkata gleicht einem gierigen, unersättlichen Bauch, einem höllischen Bauch, der schluckt und schluckt, was sich nur an seinen Rand wagt. Wer in dieser Stadt leben muss, wer hier unterwegs ist, der leidet. Der bohrt den Staub aus Ohren und Nase, der atmet flach die heiße, von Abgasen und Urin geschwängerte Luft.

Die Ampeln stauen den Verkehr, und wer es nicht mehr über die Straßenkreuzung schafft, der zeigt durch endloses Hupen, durch Gestikulieren und Augenrollen allen seine Ungeduld, vielleicht auch seine Wichtigkeit an. Und mittendrin die Fahrräder, Rikschas und Motorroller, die Skooter, die Ochsenkarren und Rinder. Fahle, gleichmütige Rinder, die sich auf dem Gehweg oder am Rande der Straße niedergelassen haben, dickfellig und dösend, und die den Verkehr, den Lärm hinnehmen wie die Menschen den erstickenden, den heißen und rauchigen Dunst über und in dieser Stadt. Dazu die Hunde, die sich in den Rinnstein fallen lassen oder an eine Hauswand, um zu schlafen.

Eine Armeslänge abseits vom aufgeregten, gereizten Verkehr schläft ein Mensch in einer Nische, ein anderer in verrenkter Haltung auf irgendeiner Treppenstufe. Der Rikschafahrer, der im Augenblick keine Kundschaft hat, macht sein Nickerchen auf der Deichsel seines Gefährts oder dagegen gelehnt auf dem Gehweg.

Überall, wo sich ein Flecken anbietet, und wenn er noch so klein ist, haben Verkäufer ihren Stand aufgebaut: Hier ein Schuster, der Schuhe und Sandalen an einen Zaun gehängt hat; drüben sitzt ein Mann hinter seinen Stoffballen, neben ihm betreibt einer seinen Teestand, ein anderer seine Frisierbude; wieder andere versuchen mit westlicher Kleidung ihr Geschäft zu machen. Bronzene Gefäße und Götterfiguren, akkurat aufgeschichtete Früchte sind zu haben, auch Fische, über die sich Fliegen hermachen, daneben billiger Schmuck und Götterfigürchen, allerlei Farben, Gewürze, Obst ... Im Schatten ausladender Bäume warten Handwerker mit ihren Gerätschaften darauf, verdingt zu werden; da warten Schuhputzer auf Kundschaft und Schreiber vor ihren Schreibmaschinen, dass jemand kommt, dem sie einen Brief tippen oder vorlesen dürfen. Auch Müßiggänger sind da: Männer, die die Zeit an Brettspielen totschlagen. Und dazwischen das Heer himmelschreiender Bettler, verkommen und schmierig, kläglich wie die Hunde am Straßenrand.

Hier und da wurde ein Fetzen Plastikplane an einer Mauer befestigt, dessen auf dem Boden liegendes Ende straff gezogen und mit Steinen beschwert worden ist. Darunter hausen ganze Familien. Ein paar Steine geben die Feuerstelle, auf der Reis oder Wasser kocht. Hier wird geliebt und gestritten, werden Kinder gezeugt, geboren und gestillt, hier werden sie gelaust und gewaschen und auf ihr Leben vorbereitet, das nicht anders verlaufen wird als das, das sie hier kennen gelernt haben. Am Ende wird hier auch gestorben ...

Mit einem ganzen Wald von Luftwurzeln drängt sich ein Banyanbaum an die hohe, weiße Mauer eines Villengrundstücks. Es ist kein gewöhnlicher, sondern ein heiliger Baum. Über Jahre haben fromme Menschen ihn mit roter Farbe und Butterfett bestrichen, haben Blumengirlanden und Götterbilder an Wurzeln und Zweige gehängt und mit unzähligen Räucherstäbchen eine in ihm verborgene Gottheit geehrt.

Manchmal sitzt in seinem Schatten ein Sadhu, ein heiliger Mann, in wilder, in Furcht einflößender Bemalung oder mit Selbstverstümmelten Gliedmaßen, vor sich die Bettelschale oder eine leere Konservendose. Viele gehen vorüber, ohne ihn zu bemerken. Andere lassen ein paar Rupien in die Schale fallen, grüßen oder berühren ihn ehrfürchtig, worauf der Sadhu ein Schächtelchen mit roter Farbe hervorholt, um den Geber mit einem Punkt auf der Stirn zu segnen.

In überwiegend weißen Hemden, die durch die dunkle Hautfarbe noch leuchtender wirken, in dunklen Hosen, barfuß, Billigsandalen an den Füßen – so gehen die meisten jungen Männer in dieser Stadt. Nicht so die Alten, die kleiden sich traditionell in den Dhoti, eine mehrere Meter lange Stoffbahn, die sie sich um die Hüfte schlingen. Die Enden ziehen sie zwischen den Beinen durch und stecken sie vorne und hinten in den Bund. Einige gehen mit nacktem Oberkörper, andere haben sich ein Tuch um die Schulter geschlagen.

Wie anders dagegen die Frauen: Sie kleiden sich in vielfarbige Saris, dessen Ende sie manchmal wie einen Schal über den Kopf gezogen haben. Der Scheitel der meisten ist rot gefärbt, das weist sie als Verheiratete aus; und dazu tragen sie das rote Segenszeichen auf der Stirn, das mit der Zeit seine geheiligte Bedeutung verloren hat und zu schlichtem, zu bedeutungslosem Schmuck abgewertet worden ist.

Der Abend kommt schnell in diesen Breiten. Auf alles Lastende und Angenehme senkt sich Dunkelheit, senkt sich eine vielleicht erquickende Nacht. Lampen leuchten auf und bunte Lichterketten, und die aufsteigende Kühle lockt die Menschen aus ihren Häusern. Das ist die Stunde des eigentlichen Lebens. Die Stadt bleibt bewegt und laut, aber die Geräusche sind anders als am Tage. Wäre es gewagt, von Labsal und Balsam, von Frieden, gar von Erlösung zu sprechen?

Es ist, als hätte eine der vielen Gottheiten, die sich in jeden Winkel eingenistet haben, die Menschen berührt und sie von Lähmung und Anstrengungen befreit, denn darauf haben sie gewartet, für diese wenigen Tagesstunden leben sie.

Und morgen wird es wieder so sein wie heute, wie gestern, wie alle Tage, die vergangen sind und kommen werden; sie werden über den glühenden, staubigen Boden dieser Stadt gehen, den Staub einatmen, sich von Dunst und Hitze lähmen lassen ...

Diese Stadt brodelt und kocht immerzu, sie kreischt und schreit, sie muss es ertragen, dass täglich hundertfach neues Leben in sie hineingestoßen wird. Und hundertfach reißt der Tod Tag für Tag Leben aus ihr heraus und zwingt es in seinen unersättlichen schwarzen Schlund.

Kapitel I

1

Vor dem Anwesen von Raju und Barbara Sharma steht der Lastwagen, der ihren Hausrat bringt. Auf diesen Augenblick haben sie lange warten müssen, denn das Schiff, das ihre Möbel und Gerätschaften von Hamburg nach Indien brachte, ist länger unterwegs gewesen, als ihnen gesagt worden ist. So haben sie die Zeit in ihrem kahlen indischen Haus unsagbar bescheiden, mit dem notwendigsten zubringen müssen, das Raju bei Verwandten und Bekannten zusammengebettelt und geliehen hatte.

Das hat jetzt ein Ende, die Leihgaben können wieder an ihre Besitzer zurückgegeben werden, denn jetzt wird alles verfügbar sein, woran sie gewöhnt waren und was ihr Leben erleichtert und angenehm macht.

Im Nu war das halbe Viertel zusammengekommen, als der Lastwagen vor dem eisernen Tor hielt; Frauen, Männer und Kinder drängten palavernd und gaffend und wurden aufdringlich, so dass die Möbelträger sie wegjagen mussten. Das half kaum, nach wenigen Augenblicken war der Umzugswagen wieder umlagert, und einige wagten sich bis in den Hof vor, wo Raju laut schimpfend auf sie losging und wieder auf die Straße scheuchte. Sogar ein Mädchen mit seiner Ziegenherde tauchte auf, ein zerlumptes und verdrecktes und wild aussehendes Kind, das seine Herde vergaß, zwei Finger in den Mund steckte und gaffte, während die Ziegen in den Hof eindrangen und sich über das wenige Grünzeug, das hier gepflanzt worden war, hermachten.

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