Seine linke Gesichtshälfte, seine Schulter beginnen unter dem Luftzug, der durch den Spalt weht, zu schmerzen. Jetzt hat er zu lange am Fensterspalt gestanden. Auf den Straßen lärmen die Menschen immer noch.
Wie ein Geschlagener tappt er zur Chaiselongue, um sich schlafen zu legen.
Er hört, wie oben im Zimmer seine Frau auf und ab geht.
Die Sonne steht schräg und lässt den Schnee glitzern, so dass es in den Augen sticht. Alle Erdmanns sind heute mit den Pferdeschlitten unterwegs. Im ersten sitzen die Brüder Stanislaus und Jendrik und die größeren Kinder, ihnen folgen, in einem gepolsterten und luxuriösen Schlitten, die beiden Frauen mit den Kleinen. Amalie hat sich die Zwillinge unter die Pelzdeckegesteckt. Sie sind den gleichen Weg gefahren, den die Männer zuvor für die Bärenjagd gewählt haben. Hier draußen bläst ein schneidender Wind aus Nordost und zwingt sie, noch tiefer in die Pelze zu kriechen. Auf ebener Strecke springt schon einmal eins der großen Kinder, der Otto und auch der Berthold, ab und läuft, von schrillen Zurufen begleitet, neben dem Schlitten oder den Pferden her.
„Passt auf“, ruft Stanislaus ihnen zu. „Hinter einer Schneewehe oder in einem zugeschneiten Erdloch könnte ein Bär oder ein Luchs lauern! Ihr wisst ja, was der mit übermütigen Kindern macht? Er frisst sie mit ihren Pelzen und Schuhen!“ Wenn ihnen Angst eingejagt wird, dann schwillt das Geschrei und Gequieke an und sie sehen zu, dass sie schnell wieder auf den Schlitten kommen.
Auch der Frantizek lässt sich von der Ausgelassenheit der Kinder anstecken. Er wirft seine Pelzmütze in die Luft und lässt dazu einen scharfen schrillen Pfiff hören, der die Pferde veranlasst, sich in noch wilderem Galopp ins Zeug zu legen. Dann schießt der Schlitten nach vorn, dass sie alle aneinanderstoßen oder gar von den Sitzen rutschen.
„Bei euch, Schwägerin, gibt es wohl keine Schwierigkeiten?“ fragt Antonya.
„Du meinst, zwischen Jendrik und mir?“
„Ja, das meine ich. Bei euch, so hat es den Anschein, geht es friedlich und beinahe ohne die sonst üblichen Reibereien und Streitigkeiten ab.“
„Es ist das Alltägliche, Schwägerin, wie es in den meisten Ehen vorkommt.“
„Alltäglich? Was sind alltägliche Schwierigkeiten? Das, was bei mir mit Stanislaus üblich ist, das ist vielleicht bei anderen die Hölle. – Bei dir, denke ich, könnte es die Hölle sein!“
Amalie ahnt, was die Schwägerin anspricht. Was soll sie dazu sagen? Sie macht sich mit den Kindern zu schaffen. Sie möchte nicht über Dinge reden, von denen man zu niemandem spricht, Dinge, die jeder besser für sich behält. Amalie fühlt sich überfordert, wenn die Schwägerin diese Seiten ihres Lebens aufschlägt. Solche Offenbarungen machen sie rat- und hilflos und verwirren sie.
Ja, sie hat von Frauen gehört, die plötzlich durch einen Vorfall nicht mehr bereit waren zu schweigen und zu tragen, was ihnen kein anderer abnehmen konnte. Solche Frauen machten andere zu Mitwissern, und deren Ehe wurde dadurch durchsichtig. Das ist, als müsste man nackt durch die Stadt laufen, so kam ihr das vor.
Sie spürt Antonyas Blick, die etwas von ihr erwartet, wenn schon keine Antwort, dann doch eine Geste. Ihr wird unbehaglich in der Nähe der Schwägerin, aber sie muss es aushalten. Schließlich sagt sie so hin: „Antonya, wo gibt es die Ehe, die wir uns als junges Ding erträumt haben? In Büchern, ja, da soll es so etwas geben. Aber im Leben? Im Leben ist das doch ganz anders ...“
„Kennst du Angst?“ fragt Antonya.
„Angst? Welche Angst meinst du?“
„Von der Angst vor allen Kreaturen, die Röcke tragen und vor den Männern mit den Hüften wackeln, Schwägerin. Es wird dir doch nicht entgangen sein, dass die Halina, diese kleine unverschämte Schlampe, meinem Stanislaus nachstellt. Und das ohne jede Vorsicht! Sie nimmt sich nicht einmal vor mir in Acht!“
„Warum ist sie dann noch im Haus?“
„Weil ich sie unter meinem Dach einigermaßen im Auge habe. Werfe ich sie hinaus, dann habe ich keine ruhige Minute, wenn Stanislaus in der Stadt oder sonst wo zu tun hat.“
„Und er? Ich meine, Stanislaus?“
„Stani? Der fühlt sich geschmeichelt. So junges Gemüse ... Stani will nur eines: erkunden, ob unter den Röcken dieser Proletenweiber etwas anderes versteckt ist, etwas Neues, das er nicht kennt.“
Sie schweigen vorerst, und jede schaut nach einer anderen Seite ins Land.
Antonya beginnt wieder: „Das Schlimme ist, dass man so allein ist ... Es gibt keinen Menschen, zu dem ich davon sprechen kann. Meinen Eltern darf ich damit nicht kommen. ‚Du hast ihn genommen’, sagen sie, ‚und damit hast du auch alles andere genommen.’ Ja, so wird es wohl auch sein: es ist allein meine Last.“ Sie greift nach der Hand der Schwägerin. „Ich hoffe, in dir, Amalie ...“ Antonya spricht nicht aus, was sie sich von Amalie erhofft.
Ohne dass sie es wahrgenommen haben, haben die Schlittenlenker den Rückweg eingeschlagen.
Vor dem Haus werden Stanislaus und Antonya von einem Haufen aufgeregter Leute erwartet; es sind vor allem die Frauen aus der Küche, die palavernd neben dem Schlitten des einfahrenden Hausherrn her laufen und ihn umringen, so dass Stanislaus Mühe hat auszusteigen. Die Halina ist nicht unter ihnen, und das, so meint Antonya, sei verdächtig. Stanislaus, der beim Vorfahren des Schlittens der beiden Frauen herbeigeeilt ist, um ihnen und den Kindern beim Aussteigen zu helfen, raunt seiner Frau zu: „Unannehmlichkeiten. Geh in die Bibliothek und warte auf mich.“
„Was gibt’s denn?“
„Später, später ... Warte in der Bibliothek ...“
Und damit läuft er zu den Ställen hin.
Über die Schulter ruft er dem Bruder zu: „Jendrik, geh mit Amalie und allen Kindern in den Salon! Wir kommen gleich nach!“
Beunruhigt, nervös geworden geht Antonya vor den Bücherschränken auf und ab. Mit meiner Unruhe hat die Halina zu tun, sagt sie sich. Das Luder will sich rächen und hat sich eine Hinterhältigkeit ausgedacht! Was findet Stanislaus nur an diesem pummeligen und gewöhnlichen Weibsbild? In wenigen Jahren ist die eine fette, eine trampelige Wachtel, die kommandiert und schreit und Teller an die Wand wirft!
Antonya betrachtet ihr Spiegelbild in den langen Glasscheiben. Eine schlanke, aufrechte und gepflegte Frau blickt sie an, der die Männer zu Füßen liegen könnten, wenn sie es darauf anlegte. Weiß ihr Mann überhaupt noch, dass sie gut aussieht und manche der ersten Frauen der Stadt, mit der sie Umgang pflegen, in den Schatten stellt?
Halina! Wenn sie doch dieses Mädchen ans Ende der Welt oder auf eine Insel wegschaffen könnte! Was mag die sich ausgedacht haben? Draußen, bei den Frauen, ist sie nicht zu sehen gewesen. Sollte die vielleicht versucht haben, sich selbst oder einem anderen etwas anzutun?
Bei der Tür bleibt sie stehen, sie möchte in das Treppenhaus hinaussehen, weil sie unten verhaltene Stimmen hört, aber dann setzt sie sich mit klopfendem Herzen in einen Sessel, die Hände im Schoß, und wartet.
Es dauert nicht lange, und leise wird die Tür geöffnet, nur ein wenig, und in dem Spalt erscheint Stanislaus, und hinter ihm taucht ein herabgekommener und stoppelbärtiger Mann auf in einem Mantel, der über den Boden schleift; sein Gesicht hat er unter einer zu großen Mütze versteckt.
„Hier“, sagt Stanislaus, „diesen Menschen haben sie bei den Ställen erwischt. Ein Dieb! Vielleicht ein Halsabschneider!“ brüllt er durchs ganze Haus. „Der hat es wohl auf Geld oder Schmuck oder sonstwas abgesehen!“ Stanislaus schiebt den Mann ins Zimmer, so dicht vor Antonya, dass der fast ihre Fußspitzen berührt. Nachdem er die Tür zugedrückt hat, fragt er mit gedämpfter Stimme: „Erkennst du ihn nicht?“
Der Fremde grinst auf die Frau herab; er zittert, als wäre er wirklich bei etwas Verbotenem erwischt worden.
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