„Solch eine Heilkraft kenne ich nur von der Quelle des Lebens, einem kleinen Wasservorkommen in Gordonien“, überlegte Spiffi. „Doch ich bezweifle, dass es etwas Derartiges hier in Telkor gibt.“
Ihr Gespräch verstummte, als sie durch das Plätschern des Regens hindurch das Nahen leiser, zögerlicher Schritte vernahmen.
„Ihr seid also endlich wieder zu euch gekommen?“, begrüßte sie die Stimme einer Frau, die soeben aus einem schiefen Durchgang in der linken Wand in den kleinen Raum trat. Sie war, verglichen mit den anderen Magierinnen dieser Insel eher einfach gekleidet und von zierlicherem Wuchs.
Die Gefährten standen auf, bemerkten die geringe Höhe des Raumes jedoch zu spät und stießen beide mit dem Kopf gegen das marode Dach, und mit der Erschütterung ging ein kleiner Schwall kühlen Regenwassers über sie nieder. Die Frau schien ob dieses Vorfalls amüsiert.
„Das ist meinem Mann früher auch oft passiert“, sagte sie lächelnd.
Noch ehe einer ihrer beiden Gegenüber etwas erwidern konnte, flog die Tür der gegenüberliegenden Wand auf, konnte sich dabei gerade noch in ihren Angeln halten, und ein kräftiger Wind blies eine Kostprobe des Regengusses ins Innere des kleinen Hauses, wo die Tropfen mit einem lauten Schlag auf die dort ausgelegten Blätter prasselten. Ein gebückt gehender Mann trat fluchend durch den Eingang ins Trockene, warf seinen löchrigen und durchnässten Strohhut ärgerlich auf einen nahestehenden Tisch und stellte einen schweren Korb, randvoll gefüllt mit weißlichen Pilzen, erschöpft auf den Boden. Dann erst warf er die Tür zurück ins Schloss.
„Und da ist er schon“, sagte die Frau zu den Gefährten und deutete in die Richtung des Neuankömmlings. Dieser betrachtete Spiffi und Lukdan eine kurze Weile und erkundigte sich dann nach ihren Namen.
„Ihr habt Glück, dass Aphosa so ein gutes Herz hat“, sagte er dann und bedeutete ihnen, sich an den neben der Tür stehenden Tisch zu setzen, an dem auch er und seine Frau – sie war es, die er mit Aphosa gemeint hatte – Platz nahmen. „Ich hätte euch normalerweise einfach dort liegen lassen, aber sie meinte, es wäre angesichts des bevorstehenden Unwetters eine Unzumutbarkeit, und so brachten wir euch dann vor ein paar Stunden hierher.“
„Wir danken euch für diese Aufmerksamkeit“, erwiderte Lukdan abwartend und sehr darauf bedacht, ihre verschwundenen Verletzungen noch nicht zu früh zur Sprache zu bringen.
„Es muss etwas sehr Merkwürdiges vorgefallen sein“, setzte Aphosa die Ausführungen ihres Mannes fort. „Immerhin wart ihr ohne Bewusstsein und ohne ersichtlichen Grund voller Blut.“
Die beiden hatten also nichts mit der wundersamen Heilung zu tun, registrierte Lukdan ein wenig überrascht.
„Unseren nicht gerade Vertrauen erweckenden Zustand verdanken wir mehr oder weniger einem fehlgeschlagenen Zauber“, versuchte Spiffi ihre Situation zu erklären, ohne ihre wahre Identität und ihre unbeabsichtigte Beteiligung an der zurückliegenden Schlacht zu erwähnen.
„Es geht uns im Grunde auch gar nichts an“, sagte der Mann (er hieß übrigens Waros) und hob beschwichtigend die Hand. „Es ist nur so, dass es unsere Kinder waren, die euch entdeckten, und euer schauerlicher Anblick hat sie ein wenig erschreckt. Wo sind sie jetzt eigentlich?“
Der letzte Satz galt seiner Frau.
„Draußen“, antwortete Aphosa knapp. Waros nickte zufrieden.
„Ihr lasst eure Kinder bei einem solchen Unwetter draußen herumlaufen?“, fragte Lukdan fast schon entsetzt.
„Sie versuchen doch nur, Flaumau wieder einzufangen“, erwiderte Aphosa und deutete auf das Fenster in der rechten Wand des Raumes. Dort konnten die Gefährten in der Ferne zwischen den Hügeln der Undai-Ebene einen Jungen und ein Mädchen erkennen, die einer Katze hinterherjagten.
„Es tut uns Leid, wenn wir sie verängstigt haben sollten“, sagte Spiffi etwas verwirrt.
„Eigentlich kamen wir den weiten Weg aus dem Reich vom Lord des Windes hierher und haben unseren Zauber in der Undai-Ebene ausprobiert, um zu vermeiden, dass irgendjemand zu Schaden kommt“, versuchte Lukdan der anfänglichen Geschichte des Bogenschützen etwas mehr Tiefe zu geben. „Daher werdet ihr vielleicht unsere Überraschung verstehen, euch inmitten dieser unbewohnten Gegend anzutreffen.“
„Eure Absichten ehren euch“, sagte Aphosa. „Doch warum habt ihr ausgerechnet das Grab Elluhkyas als Ort gewählt, um euren Zauber durchzuführen?“
Lukdan horchte überrascht auf. Der Hügel, an dem sie zusammengebrochen waren, gehörte also Elluhkya, jener Magierin, die auf ungeklärte Weise in der Lagune der Phantommagie den Tod fand. Lillyopha hatte ihnen erzählt, dass ihre bloße Anwesenheit ausreichte, dass auch die tiefste Wunde sich in Windeseile verschloss. Doch war ihre Magie wirklich so stark gewesen, dass der Heilzauber selbst an ihrem Grabe noch Wirkung zeigte?
Waros ersparte den Gefährten, die Frage seiner Frau beantworten zu müssen, indem er nämlich unmittelbar auf Aphosas Worte hin die Anwesenheit seiner Familie auf der Undai-Ebene erklären wollte.
„Ihr scheint nicht aus dem Territorium vom Lord des Wassers zu stammen“, begann er seine Ausführungen. „Ansonsten wüsstet ihr wohl von mir und der Arbeit, die ich hier verrichte. Ich bin der Verwalter der Undai-Ebene und sorge dafür, dass die Gräber sich stets in einem ansehnlichen Zustand befinden. Seit einigen Jahren hat ein Pilz, der Bleiche Weißschirm, in diesem Gefilde Fuß gefasst und droht, die Landschaft zu überwuchern. Er ist schädlich für die Pflanzen und Tiere, die in der Ebene leben, er sorgt dafür, dass der Boden verkommt und die Hügel zerfallen, sodass ihre Erde vom Wind davongetragen und das Andenken an die gefallenen Magier zerstört wird. Mit viel Mühe gelang es mir, ihn weitestgehend zurückzudrängen, nur vereinzelt sprießt er noch an den Wegrändern.“
Waros deutete auf den Korb voller Pilze, den er vorhin im Regenguss ins Haus geschleppt hatte.
„Ich weiß, was ihr nun denkt“, fuhr er fort. „Derartige Aufgaben sind für einen Magier doch eigentlich zu nieder. Leider bleibt uns kaum eine andere Wahl. Aphosa und ich sind Heradachen. So nennen die Oberen Vier die Nachkommen zweier Magier, die nicht in der Lage sind, Magie zu nutzen.“
„So etwas kommt hin und wieder vor, doch so selten, dass die meisten Bewohner Telkors nichts davon wissen“, fügte seine Frau hinzu. „Und wie ich euren mehr oder weniger erstaunten Blicken entnehme, hört ihr auch zum ersten Mal davon. Bei den meisten Magiern dauert es eine gewisse Zeit, bis sie lernen, ihre Magie einzusetzen oder bis sie überhaupt merken, dass sie sie besitzen. Wir mussten viele Untersuchungen über uns ergehen lassen, denn die Oberen Vier wollten sicherstellen, dass es sich bei uns nicht womöglich um Menschen handelte; einmal brachte man uns in die Lagune der Phantommagie, um zu sehen, ob wir wenigstens eine magische Aura ausstrahlten, dann sogar aufs Festland, doch beides blieb ohne Erfolg. Man hielt uns lange Zeit unter Beobachtung, und erst, als wir nach einem Jahrhundert noch immer nicht alterten, erklärte man uns schließlich für Heradachen und gestattete uns, weiter auf Telkor zu leben. Ihr müsst wissen, dass die ersten zwanzig Lebensjahre bei Menschen und Magiern ähnlich verlaufen und dass das Altern bei uns erst im Anschluss daran langsamer vonstattengeht.“
„Doch werdet ihr verstehen“, fuhr Waros fort, „dass wir mit unserer geringen Macht keine Rolle in Telkors Plänen spielen und daher nur schlecht über die Dinge informiert sind, die sich außerhalb der Ebene auf der Insel abspielen. Vor ein paar Tagen jedoch ließ uns Beldas (allerdings nur über irgendwelche zweitklassigen Handlanger seiner niederrangigsten Untergebenen) wissen, dass wir uns in diesen Tagen vom Graustaubtal fernhalten mögen. Nun gibt es dort zwar beim besten Willen nichts, was wir derzeit schmerzlich vermissen würden und die Anordnung kümmert uns eher am Rande, aber wir dachten, wenn wir euch in der Ebene auflesen und hierherbringen würden, wärt ihr vielleicht gewillt, uns ein wenig mehr über Beldas‘ Vorhaben zu erzählen.“
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