Tado musste seine Arbeit zunächst ungewollt langsam angehen, da sein ganzer Körper von den gestrigen Strapazen schmerzte und sich erst allmählich wieder an die Belastung gewöhnte. Trotzdem schlug er sich unglaublich gut, schaffte fast doppelt so viel wie am Tag zuvor, und mehr denn je achtete er auf die Reaktionen der Steinzwerge, wann immer sie zum Abholen der gefüllten Kisten vorbeikamen. Sie bedachten seine Leistung stets mit einem zufriedenen Nicken, doch schienen sie noch keineswegs mit dem Gedanken zu spielen, ihn in eine andere Mine zu bringen.
Zum Mittag gab es wieder jenen unansehnlichen, aber sättigenden und daher von allen Gefangenen durchaus mit zufriedenen Blicken entgegengenommenen grauen Brei. Tado versuchte, an weitere Informationen über das Monster zu gelangen, denn praktisch nur während des Essens war es ihm möglich, mit den anderen Menschen in Kontakt zu treten, ohne dass ihn einer der Steinzwerge mit scharfen Worten zurechtwies. Es schien jedoch keiner der Gefangenen wirklich gewillt zu sein, über die mysteriöse Person zu sprechen. Er erfuhr kaum mehr, als er schon wusste, hörte eine sehr verstörende Geschichte über das Monster, in der es hieß, es würde die Menschen, die es tötete, hinterher verspeisen; aber das alles war nichts, was ihm bei seiner Suche weiterhelfen würde. Er beschloss, sich das nächste Mal neben jene Leute zu setzen, die nicht in der Drachenfelsmine arbeiteten. Vielleicht waren diese ja gesprächsbereiter.
Obwohl er am Abend fast fünf Kisten mit Drachenfels gefüllt hatte, überstand er auch den zweiten Tag nicht ohne Peitschenhiebe. Gegen Ende seiner Arbeitszeit verließen ihn immer mehr die Kräfte; noch konnte Tados Körper seinen hohen Ambitionen nicht Folge leisten.
Da sich die Effektivität seiner Arbeit deutlich gesteigert hatte, fand er nun auch wesentlich häufiger jene mysteriösen Kristalle, die eine immer größer werdende Faszination auf ihn ausübten, sodass zu Beginn des dritten Tages neben dem Willen, das Monster zu finden, auch die Begier nach noch mehr bläulich schimmernden Steinen seine Moral steigerte. Es wunderte ihn ein wenig, dass sein Körper sich über Nacht stets wieder nahezu vollständig regenerierte. Eigentlich hatte er zu Beginn seines Aufenthalts in der Mine nicht damit gerechnet, es viel länger als einen Tag durchzuhalten. Er machte sich nicht allzu viele Gedanken über die Ursache dieses Umstandes, sondern akzeptierte ihn dankbar und schob es vorerst auf den klumpigen grauen Brei, den er täglich zum Mittag bekam.
Als seine Schicht sich langsam dem Ende neigte, wurde er Zeuge, wie einer der anderen Gefangenen plötzlich mitten bei der Arbeit zusammenbrach und sich nicht mehr rührte. Zwei Steinzwerge machten sich eher gemächlichen Schrittes auf den Weg zu dem ohnmächtig gewordenen Mann, dessen Rücken die Narben zahlloser Peitschenschläge zeigte. Als er auch nach den etwas rustikalen Versuchen der Steinzwerge, ihn zurück ins Bewusstsein zu holen, keine Regung zeigte, trugen ihn die beiden Aufseher nach draußen. Erst am Abend, als Tado nach einem sehr produktiven Tag – und ohne die Peitsche der Steinzwerge zu spüren zu bekommen – in seine Zelle zurückkehrte, stellte er fest, dass es sich bei dem vermutlich verstorbenen Gefangenen um jenen Mann handelte, mit dem er sich die Unterkunft teilte. Der plötzliche Tod seines Zellengenossen schockierte ihn zwar, doch da er während der gesamten Zeit in der Mine noch kein einziges Wort mit ihm hatte wechseln können, hielt sich seine Trauer eher in Grenzen, und so bemächtigte er sich der zurückgelassenen Kristalle des Mannes, sodass er nun bereits eine beachtliche Anzahl der bläulichen Steine sein Eigen nennen konnte.
Der vierte Tag in der Mine begann schließlich früher als gedacht. Es war diesmal nicht die Glocke, die ihn aus dem Schlaf riss, sondern Faugol persönlich. Der Steinzwerg wies ihn mit knappen Worten an, seine Sachen zusammenzupacken und ihm zu folgen. Tado griff eilig nach den Kristallen, denn sie waren im Moment alles, was er besaß und beeilte sich dann, der Aufforderung des Aufsehers nachzukommen. Gemeinsam gingen sie zurück in die Drachenfelsmine, in der noch die Gefangenen der Nachtschicht die letzte halbe Stunde ihres Arbeitstages verbrachten. Faugol steuerte die metallene Tür an, durch die die vollbeladenen Kisten mit dem Drachenfelsgestein in unregelmäßigen Abständen in einen Nebenraum gebracht wurden, den Tado während seines Aufenthaltes hier noch nie richtig hatte in Augenschein nehmen können, obwohl sein Arbeitsplatz sich nur wenige Meter entfernt befand.
Der Steinzwerg eröffnete ihm, bevor sie die Tür durchschritten, dass der Leiter der Mine seine Arbeit der vergangenen drei Tage zu schätzen wusste und daher beschlossen habe, ihn an eine Stelle zu versetzen, an der seine Kraft dringender gebraucht würde als in der Höhle, die nun hinter ihnen lag. Er hatte es also tatsächlich geschafft.
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Das laute Plätschern eines kalten Gusses riss Lukdan aus dem Schlaf. Müde und erschöpft setzte er sich auf. Ein paar Sekunden lang verharrte er so, dann durchfuhr ihn ein tiefer Schock. Warum lebte er noch? Die Verletzungen aus dem Kampf gegen Vold – nein, die Verletzungen aus der demütigenden Blamage auf dem Schlachtfeld – waren viel zu schwerwiegend, als dass er sie hätte überleben können. Zitternd besah er sich seinen Körper. Der schwarze Zauber des Herakinen hatte ihn hunderte Male getroffen, er müsste mit Narben von Telkors Magie geradezu übersät sein. Doch er fand nichts. Die Haut an seinen Armen und an seinem Oberkörper war unversehrt. Vorsichtig betastete er sein Bein. Er fühlte keinen Schmerz. Dabei hatte Vold es mit seinen Ranken geradezu zerfetzt. Fassungslos sank Lukdan zurück zu Boden. Alles, was noch von der zurückliegenden Schlacht zeugte und ihm verriet, dass er jenes schreckliche Erlebnis nicht bloß geträumt hatte, war seine an vielen Stellen aufgerissene Kleidung. Unruhig ließ er seinen Blick in den Himmel schweifen. Zumindest versuchte er das. Seine Augen trafen die Unterseite eines undichten Holzdaches, durch das der Regen in kleinen Rinnsalen aus zahlreichen Spalten hindurchtropfte. Erst jetzt registrierte er, dass er sich nicht mehr am gleichen Ort befand wie noch am Abend zuvor. Stattdessen lag er nun in einem mehr oder weniger quadratischen Raum einer einstöckigen Hütte, deren Wände – zum Teil beunruhigend schief aufragend – aus einem Gemisch von Lehm und Holz zu bestehen schienen. Kleine, glaslose Fenster gaben den Blick nach draußen frei. Auf dem ebenfalls hölzernen Boden hatte man große, getrocknete Blätter einer ihm unbekannten Pflanze ausgelegt, vermutlich, um die nicht hinreichend von Splittern befreiten Bretter vor der herabtropfenden Feuchtigkeit zu schützen – ein wenig erfolgreiches Unterfangen.
Lukdans Blick glitt nach links. Dort lag Spiffi; auch ihn schien keinerlei Verletzung mehr zu plagen. Getrocknetes Blut, über den ganzen Bauch verteilt, verlieh ihm ein eher schauriges Erscheinungsbild, doch die Wunde, die dafür verantwortlich war, konnte er nirgends entdecken. Allmählich kam auch der Bogenschütze zu sich. Er brauchte, ebenso wie Lukdan, einige Sekunden, ehe er die Situation vollständig erfasst hatte.
„Was ist passiert?“, fragte Spiffi. „Wo sind wir?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete der Mann aus Akhoum. „Wir sollten tot sein. Etwas Merkwürdiges ist hier am Werk.“
„Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass uns jemand da draußen in der Ebene finden würde“, überlegte der Bogenschütze.
„Das ist bei weitem nicht das Verwunderlichste“, erwiderte Lukdan. „Unsere Körper waren übersät von Wunden, viele davon entstammten Telkors Magie. Wie können all unsere Verletzungen plötzlich verschwunden sein?“
Spiffi betrachtete seinen Körper ein wenig genauer. Auch er stellte nun fest, dass von der großen Wunde, die sich über seinen gesamten Bauch ausgedehnt hatte, keine Spur mehr zu sehen war.
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