„Niemand kennt den Namen des mysteriösen Gefangenen“, ergänzte der zweite Mann. „Alle nennen ihn nur das Monster.“
Tado lief ein kalter Schauer über den Rücken. Die Worte der beiden Männer vermochten ihn jedoch nur kurz zu beunruhigen, denn ein kühner Gedanke begann in seinem Kopf zu reifen.
„Warum glaubt ihr, dass wir in der Drachenfelsmine vor dem Monster in Sicherheit sind?“, fragte er die beiden nach einigen Sekunden des Überlegens.
„Weil er seine Arbeit stets zur Zufriedenheit der Steinzwerge verrichtet haben soll“, antwortete der eine. „Einen solch wertvollen Gefangenen würden sie niemals in die schlimmste aller Minen schicken. Wenn dir dein Leben also lieb ist, dann solltest du dafür sorgen, die Anforderungen der Aufseher nie vollends zu erfüllen.“
Genau das gedachte Tado jedoch zu tun. Die beiden Männer mochten sich mit dem Gedanken, den Rest ihres Lebens im Untergrund dahinzuvegetieren, abgefunden haben; er allerdings hatte die Hoffnung, den Steinzwergen zu entkommen, noch immer nicht aufgegeben. Schließlich kannte er den Ausgang aus diesem Labyrinth. Das einzige, was ihm fehlte, war die nötige Kraft, um es mit den Aufsehern und eventuellen weiteren Gegnern, die sich ihm bei einer Flucht entgegenstellen würden, aufzunehmen. Wenn er das Monster jedoch auf seine Seite ziehen könnte, mochte die Sache schon wieder ganz anders aussehen.
Es blieb keine Zeit für weitere Gespräche. Der helle Klang der Glocke ertönte ein zweites Mal, und sofort erhoben sich sämtliche Gefangenen, ließen alles stehen und liegen und gingen zu ihrem Arbeitsplatz zurück.
Tado hackte wie ein Wahnsinniger. Er wollte die Steinzwerge um jeden Preis auf ihn aufmerksam machen, um so schnell wie möglich in eine andere Höhle gebracht zu werden und dem Monster näher zu kommen. In jeder anderen Situation hätte sich sein Körper mit aller Macht gegen dieses Vorhaben gesträubt, denn die Geschichten der Männer waren ihm durchaus eine Warnung gewesen. Doch in seiner derzeitigen Lage gab es keine andere Möglichkeit. Wenn er es rechtzeitig schaffte, aus der Mine zu fliehen, würde er vielleicht sogar seine Gefährten wiedersehen können. Zumindest bei Yala wusste er, dass sie noch lebte. Dieser Gedanke trieb ihn zu Höchstleistungen an, und bis in den späten Nachmittag hinein schuftete er ordentlich, ehe er seinem vergleichsweise schwachen Körper Tribut zollen musste und bald kaum mehr imstande war, die Spitzhacke überhaupt anzuheben. So trafen auch ihn gegen Ende des Tages die ersten Peitschenhiebe, deren Zahl nach der Mittagspause in der ganzen Höhle immer weiter angestiegen war.
Ein weiterer Glockenschlag besiegelte das Ende des ersten Tages für Tado. Er hatte insgesamt zweieinhalb Kisten voll Drachenfels aus der steinernen Wand befreit; ein Ergebnis, mit dem er gerade einmal im Mittelfeld der Gefangenen lag. Zwei faustgroße, bläulich schimmernde Kristalle konnte er schließlich sein Eigen nennen. Er wusste zwar noch immer nicht, was er damit anstellen sollte, doch übten sie eine gewisse Faszination auf ihn aus und so nahm er sie vorsichtshalber mit.
Ein paar Steinzwerge – unter ihnen auch Faugol – führten die Gefangenen aus der Drachenfelsmine heraus, zurück in jenen Raum, in dem es vorhin die breiige Suppe gegeben hatte. Von dort aus ging es durch zwei dunkle, schmale Stollen an den Ort, wo sie vermutlich die Nacht verbringen würden.
Auf dem Weg dorthin kam ihnen eine andere Gruppe Männer, angeführt von sechs Steinzwergen, entgegen; geradewegs auf die Drachenfelsmine zusteuernd. Es wurde also in zwei Schichten gearbeitet. Die Gänge waren somit zu jeder Zeit mit Wachen besetzt.
Die Zellen, die die Männer beim Mittagessen bereits erwähnt hatten, entpuppten sich als schmale, in den Fels gehauene Nischen, deren Eingänge mit einem einfachen, leider nicht aus Drachenfels, sondern aus gewöhnlichem, bereits angerostetem Eisen bestehenden Gitter versiegelt waren, sodass das gesamte Innere von draußen aus einsehbar war. In jeder Zelle gab es zwei kastenförmige, steinerne Erhebungen, die man mit viel gutem Willen als Bett bezeichnen konnte und einen dünnen Abzugsschacht in der Decke, durch den der Rauch einer eventuell brennenden Fackel entwich.
Tado erhielt einen besonders unansehnlichen Raum, an dessen Wänden sich schwarzer Schimmel gebildet hatte. Er teilte sich seine Unterkunft mit einem kleinen, schmächtigen Mann, dessen dürre Arme durchaus Zweifel aufkommen ließen, ob er überhaupt in der Lage wäre, die relativ schwere Spitzhacke Tag für Tag zu bedienen. Seine am Rücken aufgerissene Kleidung und die darunter zu erkennenden Wunden zahlreicher Peitschenschläge mochten diese Vermutung zunächst untermauern, doch die recht beachtliche Sammlung einiger dutzend Kristalle, die der Gefangene am Kopfende seines Bettes verwahrte und derer er soeben drei weitere Stücke hinzufügte, überzeugten ihn letztendlich vom Gegenteil.
Tado versuchte mehrfach, mit dem Mann Kontakt aufzunehmen, doch dieser schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Mit blutunterlaufenen Augen, in denen zudem ein unheimlicher, bläulicher Schimmer lag, starrte er seit seiner Ankunft in der Zelle auf nichts anderes als seine Kristallsammlung, strich vorsichtig mit einer Hand über die weitgehend glatte Oberfläche der Steine und befreite seine heutige Ausbeute von kleineren Gesteinsresten.
Als Tado auch nach seinem dritten Versuch, den Mann anzusprechen, noch immer keine Antwort erhielt, gab er es schließlich auf. Vermutlich hätte er den Lord des Feuers herbeirufen können und der Gefangene würde seinen Blick trotzdem weiter auf die Kristalle richten. Genau das hatte er eigentlich auch vorgehabt. Er wollte unbedingt mit dem Mitglied der Oberen Vier sprechen, vielleicht würde der Magier ihm bei einer möglichen Flucht behilflich sein. Immerhin spielte seine derzeitige Situation auch dem Lord nicht unbedingt in die Karten. Tado befand sich zwar auf Telkor, hatte die Drachenklinge jedoch unmittelbar nach dem Ende der Schlacht nach Gordonien zurückgeschickt, sodass der Magier erneut den Kontakt zu seiner Heimatinsel verlor. Hier, inmitten dieser Zelle, in der es keine Möglichkeit gab, auch nur den kleinsten Gegenstand vor den Augen der draußen auf dem Gang auf- und abpatrouillierenden Steinzwerge zu verbergen, konnte er den Lord jedenfalls unmöglich herbeirufen.
So versuchte er zunächst, seinen erschöpften Körper ein wenig zu Ruhe zu betten, um neue Kraft für den nächsten Tag zu sammeln. Das harte Bett machte dieses Vorhaben nicht unbedingt leicht, und so fand er lange Zeit keinen Schlaf. Außerdem überkam nun auch ihn mehr und mehr das Verlangen, die merkwürdigen Kristalle näher zu untersuchen. Noch hielt er der Versuchung stand; er machte sich stattdessen daran, im schwachen Licht einer der Fackeln, die draußen im Gang unmittelbar neben der Eingangstür (die die Steinzwerge übrigens sorgsam verschlossen hatten) brannte, den auf seinen Fingernägeln mitgeschriebenen Weg durch die Mine auswendig zu lernen. Er wusste nämlich nicht, wie lange die eingeritzten Symbole angesichts der schweren Arbeit, die er von nun an vermutlich täglich würde verrichten müssen, noch in aller Klarheit zu erkennen waren. Dieses Unterfangen dauerte weit mehr als eine Stunde; erst dann hatte er das Gefühl, den Weg sicher zu beherrschen. Danach wagte er es schließlich, als er sich davon überzeugt hatte, dass der andere Gefangene bereits tief und fest schlief, für einen kurzen Moment die Drachenklinge herbeizurufen, um die Symbole in einen seiner beiden erbeuteten Kristalle einzuritzen (er schrieb sie in umgekehrter Reihenfolge, denn schließlich würde er bei einer Flucht die Mine in der entgegengesetzten Richtung verlassen). Erst lange Zeit später fand er endlich in den Schlaf.
* * *
Der nächste Tag verlief ähnlich wie der erste. Ein heller Glockenton weckte ihn am Morgen; nicht so früh, wie er befürchtet hatte, aber dennoch früher, als ihm nach der kurzen Nacht lieb war. Seine Arbeitszeit schien ziemlich exakt einen halben Tag zu umfassen, die restliche Zeit blieb ihm zum Schlafen. So zumindest stellte sich für ihn die Situation dar, als er – ohne Frühstück – auf dem Weg in die Drachenfelsmine die Gefangenen entgegenkommen sah, die seine Gruppe ihrerseits am Vorabend abgelöst hatten.
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