Wonach er suchte, wussten nicht einmal seine beiden Landsleute, die er zur Unterstützung angeheuert hatte. Ägyptischen Arbeitern, die wesentlich billiger zu haben gewesen wären, misstraute der Lord. Die Ägypter hatten zu viel Erfahrung im Grabungsgeschäft und wussten, was wertvoll war und was nicht. Sie hätten gemerkt, dass ihr Arbeitgeber abseits der aussichtsreichen Grabungsplätze suchte und mehr an Kleinigkeiten interessiert schien, als an großen Funden. Und auf Kleinigkeiten hatte es der Lord tatsächlich abgesehen. Die Entdeckung eines Pharaonengrabes wäre eine Enttäuschung für ihn gewesen. Sein Sinn stand nach anderen Dingen.
Leider blieb seine Suche erfolglos. Auch an diesem Abend warf Lord Pearson nach langer, vergeblicher Mühe enttäuscht seine Schaufel in die Sandgrube. Wieder ein Tag vertan. „Schluss für heute!“, rief er den beiden Arbeitern zu.
Die verschwitzten Männer kletterten aus der Grube und gingen zu den Zelten, die neben einem Lagerfeuer aufgebaut waren. Sehnsüchtig sahen sie hinüber zu den Palmenhainen des fruchtbaren El-Faijum-Gebietes im Süden. Dort gab es Wasser im Überfluss und bequeme Unterkünfte. Hier dagegen nur Sand und Steine.
Doch Lord Pearson sah in die andere Richtung, hinaus in die Libysche Wüste. „Die Anlage ist hier in der Nähe“, sagte er mit trotziger Stimme. „Ich fühle es. Wir werden sie finden. Morgen.“
Nach einem einfachen Abendessen am Lagerfeuer ging jeder in sein Zelt. Die beiden erschöpften Arbeiter schliefen sofort ein, während der Lord noch im Licht einer Petroleumlampe uralte Lagepläne studierte. Dann legte auch er sich schlafen.
Es war eine ruhige Nacht. Der Wind wehte schwach über den Sand, der sich als leichter Schleier über alles legte.
Am Rand einer Düne, nicht weit entfernt von der Ausgrabungsstelle des englischen Lords, begann der Sand stärker zu rieseln. Ein Skorpion rannte nervös auf seinen dürren Beinen davon, während sich ein kleiner Wirbelsturm bildete, der genau an dieser Stelle stehenblieb. Eine Mulde entstand, die sich zu einem Trichter erweiterte, gut zwei Meter durchmessend und einen Meter tief. Auf seinem Boden wurde eine Falltür sichtbar, die sich gleich darauf öffnete.
Jeremiah, Yblah und Wynfried zwängten sich heraus. Sie schlossen die Falltür wieder, stellten sich um sie herum, machten mit den Händen einige magische Gesten und murmelten mit gesenkten Köpfen unverständliche Worte. Während die Jungs davon gingen, häufte sich nach und nach, wie von Geisterhand bewegt, wieder der Sand auf die Falltür. Nach wenigen Minuten unterschied sich die Stelle in nichts mehr von ihrer Umgebung.
„Nach Nordosten“, sagte Jeremiah leise, und sie gingen durch die mondhelle Nacht in die Richtung, die er vorgab. Jeder von ihnen trug einen alten, schäbigen Burnus, sowohl zur Tarnung als auch zum Schutz gegen die schneidende Kälte der Wüstennacht. Ein Beobachter hätte sie aus der Ferne für ein paar junge Fellachen halten können, die auf der Suche nach einer entlaufenen Ziege waren.
Der harte Schatten des Mondlichts verwandelte die Wüste in ein Labyrinth aus grauen Sandflächen und dunklen Felsblöcken. Die Palmenhaine des El-Faijum standen wie eine schwarze Wand im Hintergrund, während Jeremiah und seine Freunde schweigend durch die Nacht marschierten.
Wynfried blieb plötzlich stehen. „Es riecht nach Rauch“, sagte er. „Der Wind kommt von dort drüben.“
„Gehen wir hin“, entschied Jeremiah.
Sie kamen zu den Zelten, in denen der Lord und seine beiden Begleiter schliefen.
„Ein Lagerfeuer. Heruntergebrannt, aber nicht richtig gelöscht“, stellte Yblah fest.
„Das sind englische Archäologen“, flüsterte Wynfried. „Die Vorleser hatten ziemliche Mühe, sie mit Hilfe der Magie bei ihrer Suche in die Irre zu führen. Sie waren der Akademie schon gefährlich nahe gekommen.“
„Uninteressant“, meinte Jeremiah. „Gehen wir weiter.“
Die Jungs schlichen vorsichtig davon, bis sie außer Sicht- und Hörweite der Zelte waren. Aber schon nach wenigen hundert Metern blieben sie gleichzeitig wie auf Kommando stehen, lauschten in die Nacht hinaus und hechteten dann in Deckung hinter ein paar Felsbrocken abseits des Weges.
Gerade noch rechtzeitig, um nicht von den Beduinen entdeckt zu werden, die von einer Düne herunterkamen. Beduinen waren gefürchtete Räuber aus der westlichen Wüste, die manchmal in das fruchtbare Gebiet entlang des Nils eindrangen. Die Männer bewegten sich vorsichtig, nach allen Seiten sichernd. Als sie am Versteck der Jungs vorbei gingen, sah Jeremiah, dass sie schwer bewaffnet waren. Zwar waren die Musketen, die sie über die Schultern geworfen trugen, so alt, dass sie nur noch als Schlagstöcke geeignet schienen. Doch die langen Säbel und Messer in den Händen der Männer waren gefährlich genug.
Sie suchen uns, war der erste Gedanke, der Jeremiah durch den Kopf schoss. Aber bisher hatten sich die Einheimischen nie mit Novizen der Akademie angelegt. Schon das Gerücht, dass sie mit Magie zu tun hatten, ließ jeden Fellachen vor Furcht zittern.
„Die wollen jemanden überfallen“, vermutete Wynfried, nachdem die Männer außer Hörweite waren.
„Ja, aber echte Beduinen sind das nicht“, sagte Jeremiah. „Eher eine Gruppe Fellachen, die sich als Beduinen verkleidet haben. Könnten sie es auf die englischen Ausgräber abgesehen haben?“
„Unwahrscheinlich. Wenn denen etwas geschieht, startet der englische Generalkonsul umgehend eine Strafexpedition.“
„Deshalb die Verkleidung. Der Generalkonsul wird irgendeinen schuldlosen Beduinenstamm für den Überfall verantwortlich machen und bestrafen.“
„Und was nun?“, fragte Wynfried.
„Ihnen nach!“, entschied Jeremiah.
Die Jungs folgten den Bewaffneten in sicherem Abstand und beobachteten, wie sich die Männer um die Zelte der Engländer verteilten. Auf ein Zeichen ihres Anführers erhoben die angeblichen Beduinen lautes Geschrei. Mit vorgehaltenen Waffen stürmten sie in die Zelte. Gleich darauf kamen die Europäer mit erhobenen Händen heraus. Sie wurden von den Räubern zwar nicht gefesselt, aber sie mussten sich mit hinter dem Kopf verschränkten Händen auf den Boden setzen.
Der Lord wurde ausgefragt, und als er keine zufriedenstellende Antwort gab, sogar mit Schlägen traktiert. Dann gingen die Räuber in die Zelte, um sie zu durchsuchen. Nur eine Wache blieb bei den Gefangenen.
„Sollen wir eingreifen?“, fragte Jeremiah seine beiden Freunde.
„Wir müssen. Sonst könnte es den Engländern an den Kragen gehen. Wie wäre es, wenn wir noch einmal den Wind beschwören?“, schlug Wynfried vor.
„Einverstanden. Jeder ein Zelt.“
Sie stellten sich im Halbkreis auf und zeichneten mit kleinen Handbewegungen magische Gesten in die Luft. Dabei murmelten sie die in der Akademie einstudierten Sprüche und Gesänge vor sich hin.
Die Planen der Zelte bewegten sich, als würde ein zunehmend stärker werdender Sturm sie schütteln. Die Plünderer kamen heraus und stellten bestürzt fest, dass im Freien kaum ein Windhauch ging. Hektisch begannen sie, untereinander das merkwürdige Phänomen zu diskutieren. Die Zeltplanen flatterten immer heftiger, die Zeltstangen bogen sich, die Verstrebungen ächzten unter dem Ansturm der Kräfte.
Der Wächter ließ seine Gefangenen im Stich und rannte zu seinen Kumpanen. Als die drei Zelte in sich zusammenstürzten, ergriffen die Männer die Flucht.
Die verwunderten Engländer sahen ihren davon rennenden Feinden verständnislos nach. Dann inspizierten sie die Ruinen ihrer Zelte und begannen fluchend damit, Ordnung ins Chaos zu bringen.
„Ich war Erster“, sagte Jeremiah zufrieden.
„Aber nur um ein paar Sekunden“, entgegnete Yblah.
Aus sicherer Entfernung beobachteten sie, wie die Engländer ihre Zelte wieder aufrichteten. Es war ein komischer Anblick, und die drei lachten in ihrem Versteck leise vor sich hin. Dabei entging ihnen, dass einer der Engländer nach einer Weile nicht mehr zu sehen war. Als die Jungs schließlich ihren Weg fortsetzen wollten, stand plötzlich ein Mann mit einem Gewehr hinter ihnen.
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