Ein ungeduldiges Klingeln riss Rebecca aus ihrer Konzentration. Gerade jetzt! Unwillig hob sie den Kopf über ihren Laptop. Diese Dokumente konnten verdammt wichtig werden, waren ebenso schwierig zu verstehen. Wer, verdammt, musste sie jetzt stören? Als es noch einmal klingelte, erhob sie sich genervt von ihrem Stuhl. Wenn das jetzt der Briefträger … der konnte was erleben. Sollte er das Paket doch vor die Tür stellen. Unwirsch riss sie die Wohnungstür auf: “Jaa?” “Es tut mir sehr leid, dass ich Sie störe, Ms Hold.” Mrs Cox trat unsicher einen Schritt von der Tür zurück. Rebecca beruhigte sich augenblicklich. ”Ach Sie sind es, Mrs Cox. Kommen Sie doch herein.” Zögernd kam Mrs Cox in die Wohnung, ihr Unbehagen war offensichtlich.
Noch bevor die beiden Frauen die Küche erreicht hatten, legte die Haushaltshilfe auch schon los: “Es tut mir sehr leid, dass ich Sie damit belästigen muss, aber ich habe heute Abend ganz kurzfristig ein Problem”, setzte sie nervös an. Rebecca wies auf einen Küchenstuhl. Mrs Cox setzte sich gerade auf die Kante und knetete ihre Hände nervös in ihrem Schoß. “Was ist denn passiert?”, fragte Rebecca beruhigend. “Mr. Hutton erwartet heute noch wichtige Nachrichten per Boten. Irgendwann am Abend. Ich werde nicht so lange bleiben können. Mr. Hutton selbst weiß aber nicht, wann er heimkommen wird. Und ich dachte, dass Sie… Könnten Sie in seiner Wohnung warten - und dabei auch auf Murphy aufpassen?” fragte Mrs Cox sichtlich verlegen. Rebecca bemühte sich, die Dame freundlich anzuschauen. Sie verstand, dass ihre Organisation aus dem Ruder lief, womit sie offenbar nicht richtig umgehen konnte.
Rebecca musste es erst einmal selbst sortieren. “Ich bin heute Abend hier - von daher, kein Problem. Aber warum kann der Bote nicht direkt bei mir vorbeikommen? Murphy kann dann auch so lange bei mir bleiben. Und Mr. Hutton holt beide ab, sobald er wieder zurückkommt”, schlug Rebecca vor. “Das ist äh … schwierig”, stammelte Mrs Cox, “wegen des Kurier-Dienstes, der an eine bestimmte Person gebunden ist.” Rebecca starrte die ältere Dame an. Sie verstand nach wie vor nicht, wo das Problem lag, diesen Kurier anzurufen. Mrs Cox senkte vor lauter Verlegenheit ihren Kopf. Es entstand eine peinliche Stille. Rebecca atmete hörbar aus. “Okay, alles klar. Dann sagen Sie mir, was ich tun soll”, gab Rebecca schließlich nach. “Wirklich? Das ist großartig, Sie helfen mir wirklich sehr.” Rebecca konnte regelrecht sehen, wie die Erleichterung Mrs Cox erfasste. Sie blickte sie wieder, ihre ganze Haltung entspannte sich. “Wenn Sie um 19 Uhr hochkommen könnten? Dann zeige ich Ihnen alles Weitere”, antwortete Mrs Cox mit einem leichten Lächeln.
Rebecca war nervös. Warum hatte sie der Aktion zugestimmt? Im Grunde ging es sie nichts an, ob Mrs Cox ein Zeitproblem hatte. Andererseits war Rebecca auch neugierig. Wie wohnte jemand wie Nick Hutton? War die Wohnung in einem kühlen, modernen Stil gehalten - so wie sie auch ihn sah? Die Neugier in Rebecca kam doch wieder durch. Um 19 Uhr klingelte Rebecca im obersten Geschoss. Mrs. Cox hatte sofort geöffnet, ihr kurz alles erklärt und sich dann schnell verabschiedet. Sehr schnell, wie Rebecca fand, sie konnte der Dame das schlechte Gewissen direkt ansehen. Rebecca kam sich in dieser fremden Wohnung unheimlich vor. Sie empfand sich selbst als Eindringling, fast schon als Einbrecher. Noch dazu war die Wohnung so groß, mehr als doppelt so groß wie ihre, schätzte sie. Und still. Selbst wenn sie in ihrer Wohnung allein war, empfand diese nicht so still wie jetzt und hier. Sie kam sich verloren vor - und überflüssig. Gut, dass wenigstens Murphy bei ihr war. Immerhin ein Vertrauter.
Nachdem Mrs. Cox gegangen war, blieb Rebecca erst einmal etwas unschlüssig auf dem noblen Ledersofa sitzen und ließ die Wohnung auf sich wirken. Murphy wartete schon gespannt. Als Rebecca nicht reagierte, schleppte er eines seiner Lieblingsspielzeuge zu ihr: mehrere dicke, bunte ineinander verknotete kurze Seilstücke. Rebecca verstand und versuchte, es ihm wegzunehmen. Darauf hatte der Terrier nur gewartet. Knurrend, mit dem Seil in der Schnauze flitzte er durch die Räume, immer darauf lauernd, dass Rebecca ihm auch wirklich folgte.
So tobten sie eine ganze Weile durch die große, fremde, leere Wohnung. Der angenehme Nebeneffekt: Rebecca lernte die Wohnung besser kennen, ohne dass sie fand, dass sie es heimlich tat. Die Fläche war zwar sehr groß, aber es waren nicht viele Zimmer. Der Flur mit zwei Wohnungstüren: eine führte direkt ins Treppenhaus und war eher die Nottür. Die andere - offizielle - Wohnungstür war direkt mit dem Aufzug verbunden. Dann gab es in direkter Nähe ein Gästebad und zwei weitere Räume. Rebecca schätzte, dass es sich um Schlaf- und Badezimmer handelte.
Den weitaus größten Raum nahm die Verbindung von Küche, Ess- und Wohnzimmer ein. Diese drei Zimmer waren zu einem großen zusammengefügt und völlig offen gestaltet. Vermutlich gilt es als schick und man macht das heute wohl so, dachte Rebecca. Die Küche mit hellgrauen, glänzenden Fronten machte einer Profiküche alle Ehre. In dem Lack spiegelte sich nicht einmal der Ansatz eines Fleckens, als wären die Schränke noch nie berührt worden. In der Mitte befand sich die Kochinsel. Edelstahl, glänzend poliert. An einer Seite eine Art Bar mit schmalen Tisch und Hochstühlen, vor der Kochinsel der große Esstisch. Sowohl auf der Bar als auch auf dem Esstisch standen dicke Sträuße mit weißen Rosen. Rebecca wagte fast nicht, mit dem Finger die Arbeitsplatte entlangzufahren, aus Angst, ihre Finger könnten unschöne Fettspuren hinterlassen.
Eines aber zog sich durch alle Zimmer: Die Einrichtung war teuer. Vom dunklen, warmen Parkett über die dicken Teppiche bis zu den Ledersofas - alles verriet einen exklusiven Geschmack. Selbst die Sofakissen und Kerzenhalter spiegelten in ihrer zurückhaltenden Eleganz ihren Preis. Keine Frage, die Wohnung war absolut stilsicher und geschmackvoll eingerichtet. Und sie vermittelte durchaus Wärme und Charme – anders als Rebecca erwartet hatte. Vermutlich hatte sich hier ein Innenarchitekt ausgetobt, das Budget kannte bestimmt kaum ein Limit. Dennoch erschien Rebecca es nicht wie eine Wohnung. Alle Möbel waren komplett neu und daher wenig genutzt. Rebecca glaubte sich trotzdem eher in einer Musterwohnung eines teuren Möbelhauses, denn in einem wirklichen Zuhause.
Murphy hatte sich gerade hinter einem Sessel versteckt – so dachte er jedenfalls – als ein kurzes Klingeln sie aus ihrem Spiel riss. Endlich, dachte Rebecca, der Bote! Sie ging bis zur Wohnungstür am Aufzug und schaute auf den kleinen Monitor, erkannte den Boten und drückte den Summer. Die Tür öffnete sich. “Eine wichtige Sendung für Mr. Hutton. Und Sie sind?”, fragte der Bote. “Rebecca Hold”, sagte Rebecca, “ich soll die Sendung entgegennehmen.” “Stimmt, dieser Name ist mir genannt worden. Ihren Ausweis, bitte.”
Weil Mrs. Cox sie informiert hatte, wusste Rebecca Bescheid und zog den Ausweis aus ihrer Hosentasche. Der Bote betrachtete ihn genau und fotografierte ihn mit seinem Scanner ab. Anschließend musste Rebecca unterschreiben. Erst dann erhielt sie die Sendung, einen DIN A4-Umschlag, sorgfältig verschlossen. “Vielen Dank.” Der Bote verabschiedete sich schon wieder. Wenn Rebeccas Neugier nicht schon ob der Anfrage von Mrs. Cox geweckt war, so kam spätestens jetzt die Journalistin in Rebecca durch. Zu gern hätte sie gewusst, was es so Dringendes und Geheimnisvolles gab, das nur ein Bote persönlich an eine vorher ausgewählte und bekannte Person übergeben durfte.
Sie wog den Umschlag in der Hand. Sehr schwer war er nicht, vermutlich nur einige Papierseiten. Einen Absender gab es nicht, die Anschrift stimmte. Keine Handschrift, die Adresse war per Etikett aufgeklebt. Rebecca ging mit Umschlag und Hund langsam zurück in die Küche. Der Umschlag war braun, also konnte sie auch keine Umrisse erkennen.
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