Auch derzeit war die Welt wieder in einer unruhigen Phase, was sich stark auf die Arbeit in der Redaktion auswirkte: Anschläge in der Türkei, Flüchtlingskrise, Krieg in Syrien. Einerseits bedeuteten solche Krisenlagen viele Überstunden für alle Kolleginnen und Kollegen, andererseits wollten Journalisten wie Rebecca auch das richtige Gespür behalten. Das bedeutete, nicht abzustumpfen, gleichzeitig aber auch nicht alle Krisen dieser Welt mit nach Hause zu nehmen. Bei der derzeitigen Lage fand Rebecca es daher umso unpassender, bei einem Empfang die Champagnergläser zu heben.
Aber es war einer dieser Pflichttermine, bei denen auch Redaktionsmitglieder Präsenz zeigen mussten. Schließlich waren auf dem Empfang auch Anzeigenkunden und politische Gesprächspartner zugegen. Rebecca seufzte. Gerade heute Abend hätte sie lieber faul auf dem Sofa abgehangen, als überflüssigen Small Talk zu betreiben. “Ich fahre nachher eben kurz nach Hause, ziehe mich um und komme dann direkt dorthin”, sagte sie in Richtung Oliver. “Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Du suchst nur nach einem Grund, auf Deinem Sofa zu bleiben”, zog er sie mit einem Grinsen auf. “Ich werde mir Mühe geben, Dich nicht zu enttäuschen…”
Natürlich war es so, wie Oliver in der Redaktion prophezeit hatte: Einmal zu Hause, fiel es Rebecca schwer, sich doch wieder aufzuraffen. Sie legte Mantel, Tasche und Schuhe im Flur ab. Im Wohnzimmer schaltete sie das Licht ein und öffnete die Terrassentür Die klare Luft tat gut. Sie atmete sie tief ein. Nur ein paar Minuten auf dem Sofa, nur kurz ausstrecken. Das musste möglich sein, fand Rebecca. Sie schloss die Tür wieder. Zur Sicherheit schaltete sie ihren Handywecker ein. Einmal auf der Couch, streckte sie sich ganz lang und schloss die Augen für ein paar Minuten. Sie bemerkte die Ruhe fast körperlich.
Der Newsroom des Verlages schwebte ständig in Unruhe. Es handelte sich um einen einzigen großen Raum, von dem aus viele verschiedene Redakteure die Veröffentlichungen für die Print- und Onlineausgabe und die TV-Nachrichten koordinierten: Stimmengewirr, Fernseher, Radio, Telefone sorgten für eine ständige Geräuschkulisse. Auch wenn sich Experten bemüht hatten, für den besten Schutz zu sorgen. Kein Wunder, dass manchmal die Konzentration litt - ihre eigene und die ihrer Kolleginnen und Kollegen natürlich auch. Zu ihrer eigenen Überraschung war sie gar nicht richtig müde. Die Stille ließ sie zwar zur Ruhe kommen, sie konnte abschalten, aber es überfiel sie keine bleierne Müdigkeit.
Als ihr Handywecker nach einer Viertelstunde klingelte, schreckte sie nicht auf. Rebecca stellte ihn ab und erhob sich. Ein Abendessen war nicht nötig, denn die Versorgung im Wirtschaftsclub galt bekanntermaßen als exzellent. Rebecca machte sich frisch. Im Schlafzimmer öffnete sie ihren Kleiderschrank und setzte sich im Schneidersitz auf ihr Bett. Sie war unschlüssig wegen ihrer Garderobe. Nachdem sie eine Weile in den Schrank geblickt hatte, als wenn sie darauf wartete, dass die Kleidungsstücke zu ihr sprechen und ihr die Entscheidung abnehmen würde, wählte sie ein schmales schwarzes Kleid, hochgeschlossen mit Rollkragen und langen Ärmeln.
Die kurze, ineinander geschlungene Goldkette samt Armband passte ebenfalls zum Kleid. Dazu schwarze Schuhe mit hohen Absätzen und ihr schwarzer Kurzmantel. Das musste aus ihrer Sicht reichen. Schließlich ging sie nicht zu einer Cocktailparty.
Da Rebecca keine Lust verspürte, in diesem Aufzug die U-Bahn zu nehmen, gönnte sie sich ein Taxi. “Bist Du unterwegs?” Ihr Smartphone zeigte Olivers Nachricht mit einem kurzen Piepton an. “Bin in ein paar Minuten da, komme mit dem Taxi”, schrieb Rebecca zurück. Vor dem Eingang fand sie ihn problemlos. “Zeitlos schön wie immer”, empfing Oliver sie. “Mach Dich bitte nicht auch noch lustig, sonst gehe ich direkt wieder. Außerdem habt Ihr Männer es immer einfacher. Weißes Hemd, schwarzer Anzug - fertig”, gab Rebecca zurück. “Rebecca, das war ernst gemeint. Warum kannst Du immer so schlecht mit Komplimenten umgehen?”, fragte er. Statt einer Antwort hakte Rebecca sich bei seinem Arm ein, zusammen nahmen sie den Aufzug in die oberste Etage. Der Wirtschaftsclub residierte so, wie man es sich klischeemäßig vorstellt: mitten in der City, oberstes Geschoss, Concièrge, gediegene Einrichtung, die Stimmen und Geräusche dämpfte.
Der Club verfügte über mehrere Séparées, mehrere kleinere Besprechungszimmer und eine Art große Lounge mit Bar, von der aus man zur Terrasse gelangte. Das richtige Ambiente für Hintergrundgespräche mächtiger Herren mit grauen Schläfen in grauen Anzügen. Heute war allerdings etwas mehr Leben im Club, Jazzmusik perlte durch die Räume, das Stimmengewirr war lauter als sonst. Gerade nach dem sie ihre Mäntel abgelegt hatten, versorgte aufmerksames Personal sie bereits mit den ersten Getränken. Rebecca wählte eine Weißweinschorle, nippte aber nur wenig daran. Bei solchen Veranstaltungen brauchte sie einen klaren Kopf, damit sie sich nicht versehentlich bei irgendwelchen, eigentlich belanglosen Gesprächen verplauderte.
Da sie es am Mittag ausnahmsweise in die verlagseigene Kantine zum Mittagessen geschafft hatte, war Rebecca noch nicht sehr hungrig. Doch das Buffet sah trotzdem sehr verlockend aus. Aber natürlich war es wie immer: Bevor es richtig interessant wurde, kam stets der sogenannte offizielle Teil. Platz nehmen, Reden hören, ein paar nichtssagende Folien an der Wand, Applaus. Dieses Verfahren - je nach Gastgeber und Anlass - wiederholte sich mindestens dreimal. Immerhin durften sie während dieser Zeit sitzen. Sparsame Gastgeber zogen ein solches Programm auch als Stehempfang durch.
Mit der Zeit hatte Rebecca doch Hunger bekommen. Zusammen mit Oliver sichtete sie das Buffet. Sie bedienten sich an Suppe, Salat und Dessert. Vor allem die Mousse au chocolat aus richtig dunkler Schokolade begeisterte Rebecca. Langsam nahm sie Löffel für Löffel die dunkelbraune Masse aus dem kleinen Gläschen und genoss sie ausdauernd. Dass sie dabei beobachtet wurde, merkte sie noch nicht, zu sehr war sie mit dem Dessert beschäftigt. Nach dem Essen verlagerten sich die Gespräche Richtung Terrasse - sowohl drinnen wie draußen. Hier ein kurzes “Hallo”, dort ein “Haben Sie schon gehört, ...?”. Ein solcher Empfang war immer auch ein Marktplatz für allerlei Anekdoten und Gerüchte. Manche amüsant, manche so überzogen, dass keiner sie glaubte. Gerade diese entpuppten sich dann jedoch als die echten Wahrheiten.
Nick Hutton war schon länger auf dem Empfang und langweilte sich. Hier ein Lächeln, dort ein unverfänglicher Small Talk. Nick musste innerlich ein Gähnen unterdrücken. Es war einer dieser Pflichttermine, die er nach Möglichkeit mied. Immerhin hatte Ella - seine Begleitung - ihren Spaß. Mit ihren High Heels und ihrem dunkelgrünen Kleid wirkte sie noch schlanker, und sie war fast so groß wie er selbst. Sie genoss die bewundernden Blicke der anderen anwesenden Männer - und flirtete völlig ungeniert mit ihnen.
Nick kannte es nicht anders. Und es war ihm auch egal. Ella war ein nettes Mädchen, nett anzuschauen, aber nicht die richtige Frau für ihn. Trotz ihrer Schönheit erhielt sie einen großen Teil der Aufmerksamkeit, weil er an ihrer Seite war. Und dass wusste Ella auch. So wäre sie ohne ihn überhaupt nicht zu diesem Empfang gekommen. Da auch sonst niemand Nicks volle Aufmerksamkeit beanspruchte, ließ er seinen Blick locker durch den Raum schweifen.
Und entdeckte Rebecca. Unwillkürlich schlug sein Herz schneller. Sie hatte ihn seit der ersten Sekunde fasziniert. Ihre völlig unaufgeregte, fast schon sparsame Gestik, die ständig wachen Augen, ihr aufrechter Gang: Nick hatte sie schon bei ihrer allerersten Begegnung sehr attraktiv gefunden. Aber dieser Auftritt löste in ihm ein Verlangen aus, das er so schon lange nicht mehr gekannt hatte. In der linken Hand drehte sie ihr Weinglas, eine Geste, die er auch schon beobachtet hatte, als sie Kaffee in ihrer Küche getrunken hatten. Sie sprach und lächelte, vor allem aber schien sie Menschen zu beobachten. Dumm nur, dass dieser andere Journalist ständig an ihrer Seite war. Deswegen hatte sich ihm bisher noch keine Gelegenheit geboten, mit ihr unverfänglich ins Gespräch zu kommen. Außerdem hing seine eigene Begleitung wie eine Klette an ihm.
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