Alle Wohnungstüren waren erneuert worden. Sie waren gut gedämmt und schirmten den Geräuse aus dem Treppenhaus weitgehend ab. Deswegen vernahm sie den Pfiff auch kaum. Der Hund dagegen hielt plötzlich inne, hob seinen schlanken, hübschen Kopf, ließ die Socke fallen und galoppierte in Richtung Tür.
Rebecca wusste nicht, ob Hunde galoppieren können, jedenfalls ähnelten Murphys Tempo und Gangart der einem Pferd. Sie folgte ihm völlig überrascht. Erst jetzt hörte auch sie die lauter werdenden Pfiffe. Offensichtlich suchte doch jemand nach dem Hund! Der Terrier jaulte leise, wedelte mit dem Schwanz und sprang an der Tür hoch.
Wenn sie jetzt die Tür öffnete, um nachzusehen, könnte er ihr vielleicht entwischen. Sie bekam ihn zu fassen und bugsierte ihn gegen seinen Willen in ihr Arbeitszimmer. So konnte sie gefahrlos ihre Wohnungstür öffnen, ohne dass ihr der Hund entwischte. Sie verschloss sorgfältig die Tür des Arbeitszimmers, ging durch den Flur zurück, öffnete ihre Wohnungstür und spähte hinaus. “Murphy, Murphyyy!”, hörte sie draußen jemanden rufen. “Wo bist du denn schon wieder?” Dann ein scharfer Pfiff. Sie griff nach ihrem Schlüssel am Garderobenbrett (dass sie in diesem Moment daran dachte!) und ging hinaus.
Was sie sah, verschlug ihr fast den Atem – oder wahlweise hätte sie fast durch die Zähne gepfiffen: Ein unfassbar gut aussehender Typ kam durch das Treppenhaus. Alles an ihm erschien perfekt und teuer: durchtrainiert, groß, schwarze Jeans, hellblaues Hemd, den obersten Knopf geöffnet, die Ärmel lässig hochgekrempelt. Die pechschwarzen Haare erschienen auf der einen Seite länger als auf der anderen, offenbar trug er sonst einen Seitenscheitel. Im Moment fielen ihm einige vorwitzige Strähnen direkt in die Stirn. Unter den schmalen schwarzen Augenbrauen glänzten hellwache grüne Augen, die unablässig alles in sich aufzunehmen schienen. Sein Gesicht war eher schmal, mit hohen Wangenknochen, vollen Lippen und einem etwas kantigen Kinn.
Rebeccas Gefühle fuhren Achterbahn, die ihr Verstand verzweifelt in den Griff zu bekommen suchte. Aus ihren zahlreichen Gesprächen und Interviews als Journalistin kannte Rebecca solche Menschen. In der Regel Männer, die wissen, was sie wollen und es auch durchsetzen. Die ihre Macht, ihren Einfluss und ihr Vermögen nicht verbergen können, egal wie höflich, freundlich oder charmant sie sich nach außen gaben oder wie leger sie sich auch kleideten. Es lag in ihren Bewegungen, ihren Gesten, selbst in ihren Stimmen. Rebecca stand gewissermaßen einem Prototypen dieser Gattung gegenüber.
Offensichtlich war er leicht verärgert, wie seine Stimme verriet. Rebecca schätzte ihn auf Ende Dreißig, höchstens Anfang Vierzig. “Endlich sieht man in diesem Haus mal jemanden”, rief er, als er sie entdeckt hatte, und nahm locker die beiden letzten Stufen Richtung Erdgeschoss. Es war ein Dienstag, ein früher Vormittag. Eine Zeit, zu der viele Hausbewohner auf der Arbeit waren. Er offensichtlich aber nicht. “Haben Sie meinen Hund gesehen? Einmal nicht aufgepasst, schon ist der Racker wieder entwischt.” Zur Bestätigung hielt er die Hand mit der schwarzen Leine leicht hoch. Er lächelte, seine Augen verrieten aber eher Sorge. Rebecca musste sich an sich halten, damit sie ihn nicht anstarrte: Sein Auftreten, seine Stimme, seine Augen nahmen sie gefangen.
Sie schluckte, weil sie sich innerlich zusammenreißen musste, und kam ihm einen Schritt entgegen. “Ich habe ihn nicht nur gesehen, ich weiß, wo er ist”, sagte sie. Froh, dass sich nun doch alles aufklärte. “In meiner Wohnung. Ihr Hund hat die Gelegenheit genutzt, als ich zum Briefkasten ging.” Er musterte sie von oben bis unten – interessiert, offen, ungeniert. Und er wollte, dass sie es bemerkte. Sie blickte ihm möglichst unbeeindruckt direkt in die Augen. Das wäre dann schon mal geklärt, dachte sie. Das Spiel hatte begonnen. Also doch so ein Frauentyp, der sich seiner Wirkung sehr bewusst ist. Und sehr, sehr sicher.
“Murphy ist bei Ihnen? Glück gehabt. Ich hatte befürchtet, er wäre ganz weggelaufen, raus auf die Straße.” Wieder dieses Lächeln. Weiße Zähne. Grüne Augen. Noch nie hatte sie solche grünen Augen und einen solchen stechenden, durchdringenden Blick gesehen. Und noch nie hatte sie eine solche Stimme gehört. Gar nicht mal sehr tief, eher dunkel und rau. Als wenn er heiser wäre, aber dabei viel vibrierender. Sie hinterließ einen kleinen, wohligen Schauer auf Rebeccas Haut. “Kommen Sie bitte mit”, sagte sie und schloss ihre Wohnungstür auf.
Murphy konnte es kaum erwarten, er jaulte aus dem Arbeitszimmer, weil er die Stimme natürlich längst erkannt hatte. Als Rebecca die Tür öffnete, sprang er dem gut aussehenden Fremden vor Freude fast auf den Arm. “Alter Junge, nichts als Ärger mit Dir”, tadelte er den Hund mit gespielter Sorge. Murphy verstand sofort: Er nahm den Tadel überhaupt nicht ernst.
“Entschuldigung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt”, wandte er sich an Rebecca. “Das macht nichts, ich ja auch nicht”, erwiderte sie steif. “Nick Hutton. Ich bin erst kürzlich eingezogen. Oberstes Geschoss.” Er hielt ihr die Hand hin. “Freut mich. Rebecca Hold.” Angenehm warme, trockene Hand, fester Händedruck – was auch sonst – und den sie erwiderte. Seine Augen ließen sie nicht aus dem Blick, Rebecca fühlte sich wie unter einem Mikroskop. Sie standen unschlüssig in ihrem Flur, und er machte keine Anstalten, zu gehen.
“Kaffee?”, dazu rang Rebecca sich schließlich durch, um die Stille zu überbrücken. “Ja, gern.” Wieder ein Lächeln. Sie führte ihn durch den Flur zur Küche. Der Flur war der längste Raum ihrer Wohnung, dunkles Parkett, weiße Wände und Decke, und mehrere Türen zweigten ab. Direkt rechts am Eingang befand sich eine Garderobe, in schwarz gehalten, mit einem kleinen Tisch als Ablage und einer kleinen Leuchte. Strahler sorgten für angenehmes Licht. Eine Tür auf der linken Seite war unverschlossen, es handelte sich um das Schlafzimmer. Murphy kannte sich schon aus und trabte vorneweg.
Nick Hutton folgte ihr. Sie war schmal, kleiner als er, gut 1,70 m groß, schätzte er. Sie bewegte sich sehr geschmeidig, fast ohne Anstrengung. Ihre Hüften schwangen leicht in der Bewegung mit, ohne dabei aufreizend oder gar provozierend zu wirken. Einfach natürlich. Ihre schwarzen Haare, dazu die schwarze Hose und Bluse unterstrichen diesen Eindruck, der sie zugleich sehr elegant wirken ließ. Lediglich ein knallrotes Halstuch wich von diesem Look ab. Es irritierte ihn. Nicht allein der hervorstechenden Farbe wegen, sondern weil es nicht locker um den Hals und auf die Schultern fiel, sondern sehr eng gebunden war. Draußen war zwar erst leichtes Frühjahr, aber es war nicht mehr so kalt, dass man mit dicken Schals aufwarten müsste, fand er.
Die Wohnung schien gut aufgeteilt. Am Ende des Flurs befand sich offenbar ein größerer Raum, vermutlich das Wohnzimmer. Sie bog vorher rechts ab. “Bitte kommen Sie und nehmen Sie Platz.” Die Küche war überraschend groß. Sie verfügte über zwei Türen: die Flurtür, aus der sie beide die Küche betraten, links davon eine weitere zum Wohnzimmer. Gegenüber der Flurtür befanden sich zwei große Fenster, so dass es hier fast immer sehr hell war. Direkt rechts und an der vierten Wand standen Schränke, Backofen, Herd und vermutlich auch ein Kühlschrank. Die Mitte des Raumes nahm ein großer dunkler Tisch mit sechs ebenso dunklen Stühlen ein. Das scheint offensichtlich das Konzept dieser Wohnung zu sein, dachte Nick. Starke Kontraste. Für seinen Geschmack zu viel Kontraste und zu wenig Abwechslung. “Danke”, sagte er, zog einen der Stühle zu sich und setzte sich so, dass er sie sehen konnte. Murphy legte sich zu seinen Füßen.
Natürlich setzte er sich nicht einfach so an einen Tisch, dachte Rebecca. Er ging um den Tisch, die Fenster im Rücken, den Stuhl platzierte er so, dass er die Beine übereinanderschlagen und einen Arm locker auf der Lehne eines zweiten Stuhls ablegen konnte. Reviermarkierung. Immerhin, den Tisch gab er frei. Ein Mann, der sich seiner sehr sicher war, aber auch etwas gelangweilt schien. Sie kam sich beobachtet vor. “Milch? Zucker?”, fragte sie. “Oh, danke nein, schwarz bitte.” Sie nahm aus einem Küchenfach eine große weiße Tasse, stellte sie in den Kaffeeautomaten und startete diesen. Während die Maschine mahlte und brühte, ging sie in ihr Arbeitszimmer und holte ihre eigene Tasse. Mit Löffel und Keks reichte sie ihm den Kaffee, während sie selbst einen Espresso mit Zucker nahm.
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