„Hallo, liebe Familie, ich bin auch noch da!“ Christels Stimme klang vom Wohnzimmer herüber.
Mikael unterbrach die Demonstration seiner Tochter. Als er das Wohnzimmer betrat, bemerkte er die enttäuschten Gesichtszüge seiner Tochter nicht. Christel saß auf dem klappbaren Sessel und drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus. Vor ihr lag eine Reihe von Prospekten. Als Mikael sich zum Kuss nach unten beugte, sah er, es handelte sich um Reisekataloge.
„Ach, du willst verreisen?“
„Ja, mit dir. Schau mal.“
Ohne auf das Angebot einzugehen, flegelte er sich in die Polstergarnitur. „Was schlägst du vor? AnnaLena, bringst du Papa ein Bier?“ Im Hintergrund der Küche hörte er die Kühlschranktüre und Laute, die für ihn keinen Sinn ergaben.
„Ich habe da drei Sachen zur Auswahl“, meldete sich seine Frau. „ Ich möchte gerne nach Marokko. Da kann man...“
„Wandern?“, unterbrach Knoop sie.
„Das auch, aber ich dachte mehr an einen Strandurlaub. AnnaLena kann dann im Sand...“
„Mama, ich bin doch schon groß. Nur Babys spielen im Sand.“ Sie stellte eine geöffnete Flasche vor ihren Vater ab. Sie verließ den Raum aber nicht. Sie befürchtete, hier könnten Entscheidungen getroffen werden, die sie betraf.
„Zwei gegen Eins. Wir gehen wandern, nicht war AnnaLena.“ Knoop trank einen Schluck.
„Wandern?“ Der Widerwille für diesen Vorschlag stand dem Kind im Gesicht geschrieben. „Ich möchte lieber Shoppen.“
„Einkaufen heißt das“, verbesserte Knoop seine Tochter. „Und wenn du am ersten Tag dein gesamtes Taschengeld auf den Kopf gekloppt hast, dann können wir ja Wandern gehen.“
Der Vermittlungsversuch scheiterte kläglich. „Du hast immer gesagt, ich soll sparsam sein.“ AnnaLena stützte die Hände in ihre Hüften.
Knoop versuchte es anders herum. „Was hältst du davon, wenn wir uns Ausgrabungen anschauen oder Altertümer?“
„Meinst du die Sachen, die du dir immer im Fernsehen anschaust? Ach, nein danke. Solche toten Steine sind Mega langweilig.“
Knoop gab es auf. Er nahm einen gewaltigen Schluck und wandte sich seiner Frau zu. „Ich gehe davon aus, die Vorschläge Zwei und Drei haben auch mit Strand zu tun?“
Christel blätterte in den Prospekten, fand aber nicht, was sie suchte. Unwillig hob sie den Blick. „Was ist schlimm daran, wenn man braun werden will? Ich jedenfalls fühle mich dann besser.“
Knoop stöhnte. „Natürlich bin ich stolz, wenn ich eine schöne Frau habe, aber auch beim Wandern kann man braun werden. Ich...“
„Aber nur Kopf und Hals“, unterbrach Christel ihn. „Der Rest bleibt weiß. Igittigitt!“
„Die Verhandlungen werden an dieser Stelle unterbrochen.“ Knoop erhob sich. „Ich jedenfalls werde mir nun ein Brot schmieren.“
„Du kannst ja am Strand herum laufen oder dich in ein Cafe setzen. Dann kannst du dir ja die netten braunen Dinger anschauen und dir Appetit für die Nacht holen“, sprach Christel gegen den Rücken ihres Mannes.
„Darauf wird es herauslaufen“, murmelte Knoop. Er nahm sich vor, nach einem Buch mit mehr als fünfhundert Seiten Ausschau zu halten.
Duisburg Dellviertel, 24. April
Die Besprechung der Abteilung van Gelderen war ohne Höhepunkte und Neuigkeiten bereits nach zwanzig Minuten beendet worden. Auch Knoop hatte nichts Neues beisteuern können. Er war sich auch nicht sicher, was man von ihm erwartete. Auf jeden Fall hatte sein Chef sich so verhalten. Er selbst interessierte sich ebenfalls wenig für die Arbeit der anderen. In einem Vorratsilo der Müllverbrennungsanlage der Stadtwerke Duisburg waren sechs Personen gefunden worden. Es handelt sich dabei um fünf Frauen und einen Mann. Alle schienen auf grausame Weise ums Leben gekommen zu sein. Die gesamten kriminaltechnischen Untersuchungen standen noch aus. Das war ein Ereignis, das mit Sicherheit die Aufmerksamkeit der Presse bedeutete. Knoop war nicht überrascht, van Gelderen übernahm die Leitung der Untersuchung. Das war ein Happen, den sich der Chef nie entgehen ließ. Knoop schaltete sein Gehör ab. Er klinkte sich praktisch aus dem weiteren Geschehen aus.
Am Rande bekam er mit, wie van Gelderen die MK zusammenstellte. Knoop hielt sich bedeckt. Sein Chef hatte wohl auch wenig Interesse, ihn in dieser Beziehung anzusprechen. Mikael kehrte in Gedanken zu seinem Mordfall zurück. Aber er hatte keine zündende Idee, wie er hier weiter kam. Am Ende der Sitzung zögerte Knoop, den Raum zu verlassen, aber van Gelderen machte keine Anstalten, ihn wegen Carlos Laurenzo anzusprechen. Sein erster Gedanke war Unmut. So, wie man mit ihm verfuhr, empfand er es als Taktlosigkeit. Dann beschwichtigte er sich selbst. Das war typisch Albino. Der würde sich nie ändern. Er musste das Beste daraus machen. Und das Beste war, wenn man keine Anweisungen bekam, dann konnte man auch nicht dagegen verstoßen. Er atmete tief durch.
Auf dem Flur hatte Laurenzo artig gewartet. Als Knoop nichts sagte, trottete er folgsam hinter ihm her. Im gemeinsamen Arbeitszimmer zog er seinen Computer aus der Tasche. Seine Finger begannen wieder zu tanzen.
„Herr Laurenzo!“
Die Finger erstarrten augenblicklich. Nur ein Daumen machte noch eine einzige Bewegung. Knoop hatte den Eindruck, er schaltete das Gerät aus.
„Was hat Ihre heutige Befragung der Zeitungen und der Pressestelle gebracht?“
Laurenzo stützte beide Arme auf die Schreibtischplatte. „Bei den Zeitungen hat sich kein Zeuge gemeldet. Gestern nicht und heute auch nicht. Ich habe das gecheckt. Und die Pressestelle wusste auch nichts.“
„Gut so, beobachten Sie das weiterhin. Aber ich habe da noch etwas anderes. Was sagt Ihnen der Begriff >Sybil