Erst jetzt hatte er Fakten über die Rocker zusammengestellt. Dabei musste er erfahren, dieser Begriff war nur scheinbar amerikanisch. Ihn gab es im anglikanischen Sprachraum überhaupt nicht, vergleichbar dem Begriff Handy. Die treffendere Bezeichnung war >Biker<. Das Ursprungsland der Motorradbewegung waren zweifellos die Vereinigten Staaten von Amerika. Es gab diesen Zulauf schon zu einer Zeit, als sich Motorräder aus motorisierten Fahrrädern entwickelten. Wer den nordamerikanischen Kontinent kennt, seine geografische Ausdehnung und seiner Landschaft, die jeden Reisenden in ihren Bann schlägt, der wird verstehen, wie Motorradfahren auf diesem Kontinentteil schnell Anhänger fand. Nun stießen diese geografischen Dimensionen sehr schnell an eine Grenze, die zur Entscheidung zwang. Entweder gab man sich dem Rausch der Landschaft hin und empfand dies als Inbegriff von Freiheit. Der Preis dafür war die Unvereinbarkeit dieses Erlebnisses mit Beruf und Arbeit. Man konnte nicht Motorradfahren und arbeiten zugleich. So entstand der Ruf des freiheitsliebenden Rebellen gegen die als muffig empfundene bürgerliche Gesellschaft. Wer Freiheit nur so empfinden konnte, der war gezwungen schnell seinen Lebensunterhalt zu sichern. Dieser Weg führte konsequenterweise in die Illegalität, weil man nur so eine >schnelle Mark< machen konnte. Hier organisierten sich die, die man bei uns als Rocker bezeichneten.
Diejenigen, die Motorradfahren über die berufliche Existenz bestritten, fanden ihre Freiheit lediglich am Wochenende oder in der in Amerika kärglichen Urlaubszeit. Hier fanden sich Motorradfreunde zusammen, die einen Anteil von über 95 Prozent der Motorradfreunde hatten.
Knoop erkannte schnell, er hatte bislang nur Kontakt mit der ersten Gruppe gehabt. Diese würde ihn wohl auch nur in seinen weiteren Ermittlungen interessieren. Diese Gruppe von Bikern, er würde gerne bei dem Begriff Rocker bleiben, waren ein in sich geschlossener Kreis von Menschen, die von einem Club-President diktatorisch geführt wurden. Dieser setzte Überordnung und Unterwerfung ein, um seine Ziele in dieser Organisation zu erreichen. Dabei schreckte er vor Gewaltanwendungen nicht zurück. Ihm unterstanden Funktionsträger, die denen in deutschen Vereinen ähnliche Aufgaben wahrnehmen. Es gab einen stellvertretenden Präsidenten (Vice President), einen Schatzmeister, aber auch einen ortskundigen Führer bei Ausflügen (Road Captain), oder einen Sicherheitschef, der für die Disziplin in der Gruppe verantwortlich war. Jede Funktion wurde durch einen Aufnäher auf der Kutte erkennbar gemacht. So entstand eine kleine Kommandoebene von Befehlsempfängern und ein großer Rumpf williger und fügsamer Untertanen. Was die Mitglieder zusammenhielt, war die Zuweisung zu einer genauen Position in einer festgefügten Rangordnung, die Zugehörigkeit zu einer gewalteinflößenden Einheit und die Sicherung der wirtschaftlichen Existenz. Das Mitglied zahlte für diese Annehmlichkeiten mit bedingungslosem Gehorsam und einem Schweigegelübde. Insofern unterschied sich dies Gruppierung nur wenig von Organisierter Kriminalität.
Weil in diesem Sektor eine Vielzahl solcher Bruderschaften bestanden, hatten sich einige markante Unterscheidungsmerkmale durchgesetzt. Um die Zugehörigkeit zu unterstreichen, hatte jede Gruppierung eigene Kennzeichen, die sie >Patches< bezeichneten. Diese waren riesige Aufnäher, die auf ärmellosen Jacken, Kutte genannt, den Rücken verzierten. Knoop erinnerte sich an den bluttriefenden Totenkopf, den er heute anschauen musste. Des Weiteren wurden Gebietsansprüche erhoben und diese mit Gewalt verteidigt. Dabei scheute man sich nicht, Waffen aller Art einzusetzen. Ein Grund, warum es beim LKA eine eigene Abteilung gab, die sich mit solchen Vergehen beschäftigte. Der Zugang zur Gruppe war streng begrenzt. Man kannte Anhänger (Hang Arounds), die keinerlei Rechte hatten. Aus diesen hob man Ausgewählte aus, die sich für diese Aufnahme bewähren mussten. Sie durften wohl eine Kutte tragen, auf denen aber noch kein Patch aufgenäht war. Dies stand nur Mitgliedern zu, die aber erst ein Aufnahmeritual - z.B.: Saufen von Bier mit Motoröl - über sich ergehen lassen mussten. Der Preis dieser Mitgliedschaft war eine lebenslange Zugehörigkeit zur Bruderschaft und das bedingungslose Einstehen für die anderen Mitglieder. Eine Vollmitgliedschaft von Frauen war ausgeschlossen. Knoop lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er stützte den Nacken mit seinen Händen. Was er hier vorfand, waren frühzeitliche Regeln und verstaubte Weltbilder, die das Wesensmerkmal solcher MCs, wie sich diese Motorradclub abkürzten, ausmachten.
Das Folgende interessierte Knoop besonders. Der kriminelle Charakter solcher Bruderschaften war schlecht zu beweisen. Man hatte sich als Verein eintragen lassen. Das deutsche Vereinsrecht, eigentlich gedacht, die Freiheit von Bürgern zu erweitern und zu schützen, deckte auf diese Weise kriminelles Verhalten. Erteilte die öffentliche Verwaltung ein Vereinsverbot, dann wurde dagegen geklagt. Häufig reichen die Beweise für ein Verbot nicht aus. Teilweise waren Verfehlungen Einzelner dem Verein als solchem nicht anzulasten. Andererseits existieren Kontakte aus Fitnessstudios, Schullaufbahnen oder durch Gefälligkeiten (Geldzahlungen), wodurch die Betroffenen vorzeitig von Razzien oder Verwaltungsmaßnahmen erfuhren und deshalb rechtzeitig gegensteuern konnten. Ein Beispiel aus den Akten imponierte Knoop besonders. Bei einer Razzia erwarteten die Beamten ein unverschlossnes Gebäude. Ein an die Haustüre gehefteter Zettel bat die Polizei, nicht zu viel zu zerstören und bitte den Hund nicht zu erschießen. Knoop war sofort klar, wenn er erfolgreich agieren wollte, dann durfte keiner von seinen Aktionen erfahren.
Knoop las das Gesammelte ein weiteres Mal durch. Ihm wurde klar, er würde sich bei der Aufklärung in ein gefährliches Fahrwasser bewegen. Er musste nicht nur die Zahl der Mitwisser begrenzen, er durfte auch zu Hause nichts über die Gefährlichkeit seiner Ermittlungen verlauten lassen. Sein Gedankengang wurde jäh gestört.
„Übrigens, Wissen Sie, Sie stehen in der Zeitung?“
„So?“ Knoop ärgerte sich selbst über seine dümmliche Reaktion.
„Tja, nicht Sie persönlich, aber unser Fall.“
Knoop hatte gestern der Pressestelle einige kurze Informationen zusammengestellt. Er hatte aber nicht wirklich damit gerechnet, ob die Zeitungen etwas daraus machen würden. „Und welche Zeitung hat da was gebracht?“ Gleichzeitig freute er sich, der Neue hatte >uns< gesagt.
„Ich weiß nur von der NRZ, aber ich kann nachschauen, ob auch die anderen etwas veröffentlich haben.“
„Gut, tun Sie das. Ich hole mir inzwischen eine NRZ.“
„Hey Mann, wo leben Sie denn? Warten Sie, ich lade den Artikel eben runter.“ Die Daumen zeigten wieder ein Eigenleben. „Hier, wollen Sie lesen?“ Er hielt das Smarty in Richtung Knoop.
Knoop wollte. Er stand auf, um das Gerät zu nehmen. Seine Freude war aber schnell verraucht. Der Artikel brachte mehr als Knoop gemeldet hatte. Ja, er wurde zwar nicht namentlich genannt, aber doch als Kriminalpolizei Duisburg angesprochen. Der Redakteur schien auch etwas gegen die Prostitution zu haben, denn die Tote war für ihn der Aufhänger, um über die wilde Prostitution in Duisburg zu schimpfen. Gut war indes, man hatte ein Foto der Toten mit veröffentlicht und die Leser aufgefordert, sich zu melden, falls sie diese Person kannten.
„Was sagen Sie zu diesem Artikel?“ Er reichte Carlos Laurenzo das Handy zurück.“
„Tja, also“, stammelte dieser. „Wird wohl schon so stimmen. Ist ja sowieso nur eine Nutte.“
Knoops Gesicht lief rot an. Er zählte bewusst bis Fünf, bevor er antwortete. „Herr Kriminalassistent Laurenzo, ich habe langsam den Eindruck, wir können keine Freunde werden.“
Laurenzo wechselte die Gesichtsfarbe. Es sah aus, wie ein ertapptes Kind mit knallrotem Backen. Auch die Daumentätigkeit erstarb. „Hab´ ich was Falsches gesagt?“
Читать дальше