Ein Raunen ging durch die Männer.
Minkewitz zog die Hose über den Bauch, so als bewege er einen Ring nach oben. Er nahm die Sonnenbrille ab und klopfte damit unruhig auf seinem Oberschenkel herum. „Phallus, ist da noch etwas, was ich in dieser Angelegenheit wissen müsste?“
Phallus schüttelte so schnell seinen Kopf, er konnte gar nicht nachgedacht haben. Minkewitz schlug ihm freundschaftlich vor die Schulter. „Gut! Phallus, du musst ja sowieso nach Spanien. Es wäre nicht schlecht, wenn du eine Zeitlang dort abtauchen würdest. Lass dir ein bisschen Geld aus der Firmenkasse geben. Ich rufe dich an, wenn die Luft wieder rein ist. Untersteh dich, vorher hier zu erscheinen. Aber vorher holst du mir noch ein Bier, Bruder. Klaro?“ Minkewitzs Körper versank wieder in den Polstern seines Sessels. Die Sonnenbrille landete wieder auf dem Nasenrücken.
Die Musik erfüllte den Raum mit einigen Dezibel mehr, als es eigentlich den Ohren zuträglich war. Aber Lautstärke war keine Frage des bloßen Hörens, sondern brachte das Gefühl über das Gehörte zum Ausdruck. Man wollte sich nicht mit Musikuntermalung unterhalten. Das konnte man bei dieser Lautstärke auch gar nicht. Nur wenn man sich anschrie, war Verständigung überhaupt möglich. Aber zum Quatschen war man nicht hierher gekommen. Man bewegte sich im Rhythmus der Musik. Es gab aber keinerlei Vorgaben in den Bewegungsabläufen. Man hüpfte, sprang oder stampfte nach Belieben, ganz wie man wollte. Der Tanz war kein Paartanz. Man ging zwar mit dem anderen Geschlecht zur Tanzfläche, aber dann musste es keine weiteren Bindungen geben. So drifteten die Partner in der Dauer der Musik unablässig auseinander. Man brauchte schon eine Menge Kondition, um eine volle Sequenz der jeweiligen gespielten Musikrichtung durchzuhalten, aber diese Ausdauer hatten die Jugendlichen. Und wenn sie diese nicht hatten, dann gab es Mittelchen, die Hilfe hierbei versprachen. Tanzen war Inbegriff von Lebensfreude. Es war aber auch ein Ventil, überschüssige Kräfte loszuwerden. Aber am Bedeutsamsten war der Sex. Das hatte sich hartnäckig seit Jahrhunderten nicht geändert. Es hatte sich die Meinung festgesetzt, Mädchen würden durch Tanzbewegungen williger werden. Und dasselbe dachten wohl auch die Mädchen über das andere Geschlecht. Dies auszusprechen war aber nicht notwendig, weil bei Sex das Resultat zählt und nach jeder durchtanzten Nacht belegte in vielen Fällen das Resultat diese Annahme.
Auch ER war hierher gekommen. Auch ER suchte intuitiv den sexuellen Kontakt. ER war aber höchst unsicher, wie sich dieser einstellen sollte, was ER überhaupt suchte. Aber was für alle seine Kumpel galt, das musste auch für ihn gelten. ER konnte bei den ganzen Spielchen problemlos mithalten. ER hatte eine phantastische Kondition, was er dem Fußballspielen verdankte. ER brauchte solch einen Hilfsscheiß, wie ihn die anderen nahmen, nicht. Zudem besaß ER ein gutes Rhythmusgefühl. ER liebte es, sich unter Menschen zu bewegen. Seine Zeit in einem Zimmer vor einer Spielkonsole zu verbringen, war seine Sache nicht. Dort bekam ER das nicht, was ihn zunehmend antrieb – die menschliche Anerkennung über körperlichen Kontakt. In der Disko traf ER aber genau auf das. Er war einen Kopf größer als seine gleichaltrigen Kumpel. Seine athletische Figur fand bei den Mädchen Anklang und übte bei seinen Freunden eine magnetische Wirkung aus. Diese glaubten, in seiner Nähe bessere Chancen beim weiblichen Geschlecht zu haben. Aber ER fand nicht das Mädchen, welches ihn in den Bann schlug. So wechselte ER ständig seine Mädchenbekanntschaften. Dieses Verhalten brachte ständig neue Freundeskreise für ihn und seine Freunde, was aber seine Attraktivität noch weiter steigerte. Wer >in< sein wollte, der lud ihn zu seinen Partys ein. Hier erschien ER seltenst mit dem gleichen Mädchen. ER schien nur über eine Eigenschaft nicht zu verfügen. Er war nie eifersüchtig, wenn man ihm seine Begleitung ausspannte. Das Warum interessierte keinen, denn beim Sex galt nur das Resultat, seltenst die Beweggründe.
Die Musik änderte schlagartig ihren Takt. Begleitet von fehlender Beleuchtung ließ sie nur langsame Bewegungen zu. Diese Sequenz folgte ziemlich kontinuierlich nach festen Zeitabläufen. Nun galt es, einen Partner zu finden. ER brauchte sich bei der Partnersuche nie anstrengen. Immer standen Mädchen in seiner Nähe, die sich ihm anboten. ER brauchte bloß zu wählen. ER entschied bei seiner Wahl weniger nach dem Aussehen, denn nach der Geschwindigkeit. Das war für ihn am angenehmsten. Damit war diese lästige Sache, sich festlegen zu müssen, erledigt. ER wartete sowieso auf die nächste, die schnellere, Abfolge. ER wusste ohnehin nicht, warum man diese Art Körperkontakt suchte. Von Erzählungen seiner Kumpel wusste er, hierbei sollte der Penis anschwellen, es in der Hose eng werden. Bei ihm war das nie der Fall. ER führte das darauf zurück, weil er die Richtige noch nicht gefunden hatte. ER griff zwar, wie alle anderen, den Mädchen an den Busen, oder vergrub seine Hände in die Spalten ihres Pos. Seiner Partnerin gefiel dies, aber ER fragte sich, was es daran so Besonderes gab. Seine Hose war nie gefüllt. Und bei ihm stellte sich nie das Gefühl ein, das Mädchen in seinen Armen flachlegen zu wollen, wie seine Kumpel es ausdrückten. Ab und zu war ER mal mit einer verschwunden. Aber zu mehr als Petting war es nie gekommen. ER gab vor, keine geeigneten Räumlichkeiten zu haben oder ER schob Termine vor, wenn die Kleine über Räumlichkeiten verfügte. Wenn man ihn aufforderte, zu berichten, wie es mit dieser oder jener abgelaufen war, dann lächelte er nur vielsagend. Er wusste es einfach nicht und so konnte er auch nichts berichten. So lächelte ER nur zweideutig und bei dem Frauenverschleiß glaubte man ihm den Kavalier recht gerne.
Auch dieses Mädchen gab ihm nichts. Sie drängte sich eng an ihn und ER spürte ihre jugendliche Figur, ihre kleinen festen Brüste, noch nicht von einem Halter eingezwängt. Sie bewegte sich aufreizend. Ihre Bewegungen deuteten einen möglichen Geschlechtsakt an. ER aber dachte dabei an die Zeit, die noch vergehen musste, bis die richtige Musik wieder einsetzte. Dabei war die Kleine wirklich nett. Mit ihren großen, dunklen Augen schaute sie ihn verliebt an. Der Kajalstift hatte ihre Augen herausgearbeitet. Sie hatte beschwörende Gesichtszüge. Ständig versuchte sie, seinen Bewegungen zu folgen, um zu einem Körperkontakt mit ihm zu kommen. Als ER ihrem Kopf zufällig zu nahe kam, küsste sie ihn unaufgefordert. ER ließ es geschehen und kopierte ihre Bewegungen mit seiner Zunge. Aber ER konnte nicht sagen, was an einem solchen Austausch so Besonderes sein sollte. ER merkte, wie sie in seinen Armen schwer wurde. Er musste sie fester fassen, damit sie nicht fiel. Willenlos gab sie sich ihm hin, um anzudeuten, es werde auch so sein, wenn man zusammen im Bett läge. Aber ER ergriff dieses Angebot nicht. Als die Musik wieder fetzte, verabredete er sich nicht mit ihr. ER gab ihr einen Kuss auf den Mund und vertröstete sie auf später. Dann ging ER zur Toilette, seine Blase drückte.
Duisburg Dellviertel, 24. April
Im Arbeitszimmer von Knoop und Laurenzo herrschte Stille. Die Verkehrsgeräusche auf der vorbeiführenden Allee drangen nur bedingt in den Raum. Wenn man nicht genau darauf achtete, registrierte das Gehirn dies überhaupt nicht. Die Deckenbeleuchtung war ausgeschaltet. Nur der Schein der Schreibtischlampen machte die auf den Tischflächen verteilten Schriftstücke lesbar.
Die Sammlung von DIN A4 Blättern, die Knoop inzwischen mit Informationen gefüllt und danach sortiert hatte, hatten einen beachtlichen Umfang angenommen. Eigentlich war es Laurenzo gewesen, der die meisten Informationen herbeigeschafft hatte. Der Bursche hatte kaum Ahnung von Kriminalistik, aber in der Informationsbeschaffung aus dem Internet war er unschlagbar. Fragte Mikael nach einer Information, dann begannen Laurenzos Daumen auf den Bildschirm zu tanzen, bis der Taschencomputer ein Ergebnis ausspuckte. Das Tempo dieser Informationsbeschaffung war beeindruckend. Knoop merkte aber schnell, sein Kollege konnte zwar fix Antworten auf die Probleme finden, aber Knoop musste diese einordnen und bewerten. Andererseits musste Knoop selbstkritisch zugeben, eine solche Arbeit hätte er eigentlich vor seinem Besuch in Rheinhausen machen müssen. Er wusste, er neigte zu spontanen Handlungen. Diesmal hatte dieser Aktionismus glücklicherweise keine negativen Folgen für ihn gehabt. Er musste sich aber eingestehen, rückwirkend die Sache unterschätzt zu haben. Er hatte in ein Wespennetz gestochen. Dieses war weitaus gefährlicher, als er angenommen hatte.
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