Laurenzo saß über der geöffneten Mappe und wischte über den Kommunikator, so als bekäme er den Schmutz nicht von der Oberfläche weg. Knoop hatte den neuen Kollegen überrascht. Dieser hatte mit dem Studium der Unterlagen aufgehört, ohne fertig zu sein. Eigentlich hatte er vor, den Neuen behutsam in seinen neuen Arbeitsbereich einzuführen, aber ihn störte diese Arbeitseinstellung. Wenn der Anwärter glaubte, die Zeit bei ihm im Zimmer herunterwischen zu können, dann sollte sich dieser gewaltig irren. Van Gelderen hatte ihn ja nicht eingewiesen, wie er mit dem Lehrling verfahren sollte. Also war es Zeit, ihn der Praxis auszusetzen.
„So, dann kommen Sie mal mit. Haben Sie ´nen Mantel?“
Carlos schüttelte den Kopf.
Na gut, dann würde der Neue eben frieren müssen.
Duisburg Rheinhausen, 23. April
Die Gegend wurde immer ländlicher. Trotzdem hatte man die Stadt Duisburg nicht verlassen. Duisburg war eben mehr als nur dreckige Schornsteinmetropole. Hier stellte sich fast der Eindruck ein, mitten auf dem Lande zu sein. Wiesen, so weit das Auge schaute. Na, ja bis auf dem Damm der Autobahn und der Silhouette über dem Rhein in der Ferne. An dieser Stelle aber trat die bestimmende Hand des Menschen zurück und überließ Hasen und Kaninchen das Wirken. Sie befanden sich im Überschwemmungsgebiet des Vater Rheins.
Laurenzo hatte die ganze Fahrt über schweigend auf dem Beifahrersitz gehockt. Er schaute sich die vorbeifliegende Umgebung an, so als ginge es um einen Ausflug. Der Streifenwagen vor ihnen hielt abrupt. Die Asphaltstraße hatte man schon länger zurückgelassen. Die Reifen der beiden Autos hatten seitdem nur Grashalme niedergewalzt. Die Wagentüren des Polizeifahrzeugs öffneten sich. Beide Beamte kamen auf den Wagen von Knoop zu. Auch dieser stieg aus.
„Hier geht es nicht mehr weiter“, sagte der Fahrer.
„Sind Sie sicher, wir sind hier richtig?“ Der Streifenführer machte Anstalten, das Unternehmen abzublasen.
„Na ja“, ergänzte der andere. „Auf jeden Fall nicht mehr mit dem Auto.“
Vor ihnen in weiter Entfernung lag eine Ansammlung von Gebäuden. Es war kalt. Die Polizisten in Uniform schlossen den Reißverschluss ihre Lederjacken. Knoop klappte den Kragen seines Kurzmantels hoch. Nur Kriminalsassistent Laurenzo hatte nichts, was er der Kälte entgegensetzen konnte. Er steckte die Hände in den Hosensack. Der Weg zu den Gebäuden war ein schmaler Pfad, der in der Mitte mit Schotter befestigt war. Die niedergefahrene Grasnarbe zeigte die Spuren von Zweirädern. Die Uniformierten stapften voraus. Knoop folgte ihnen unmittelbar. Laurenzo stolperte hinter den Männern her. Bald hatte sich um die Schuhe aller ein grüner Belag gelegt. Auch Knoop fluchte darüber. Obwohl er sich bemüht hatte auf dem schmalen Kiesstreifen zu gehen, hatte er seine Schuhe versaut.
Sie hatten sich auf Sichtweise dem Haupthaus genähert, als ein lautes Gebell ihren Gang stockte. Auf dem Weg kam ihnen ein Mastiff entgegen. Fünf, sechs Meter vor ihnen entfernt verharrte er. Er senkte seinen Oberkörper. Aus seiner mächtigen Brust entrann ein gefährliches Grollen. Knoops Adlatus schloss zu der Gruppe auf. Er hatte das Tier noch nicht gesehen. Das Warngeräusch des Mastiffs lenkte seine Aufmerksamkeit auf das Tier. Laurenzo erstarrte und erbleichte. Wahrscheinlich gab sein Gehirn an die Muskeln den Befehl zur Flucht, aber die Nerven versagten, diesem Befehl Folge zu leisten. Der Streifenführer zog seine Waffe aus dem Futteral.
„Soll ich ihn erschießen?“
Während Knoop überlegte, ob er die Anweisung dazu geben sollte, ertönte ein Pfiff. Die Spannungen wichen aus dem Körper des Tieres. Es überlegte sichtbar. Sollte es seinem Trieb nachgehen, oder dem Befehl gehorchen? Ein erneuter Pfiff erleichterte die Entscheidung. Ein Mann in einer schwarzen Lederhose, einem kurzärmligen T-Shirt und einer Kutte bekleidet, tauchte aus dem hüfthohen Gras auf. Im Gegensatz zu dem Besuch schien er nicht zu frieren.
„Was wollt ihr denn hier? Verpisst Euch!“ Die unfreundliche Stimme ignorierte die Uniform der Beamten. Knoop schob sich nach vorne.
„Knoop, Kripo Duisburg. Wenn Sie Lust auf eine tote Dogge haben, dann mal los.“
Die Überheblichkeit verschwand aus dem Gesicht des Wächters. „Was wollt Ihr? Verlaufen, wa.“
„Bringen Sie uns zu ihrem Boss, oder demjenigen, der hier etwas zu sagen hat.“ Knoop ging auf die Lederhose zu. Der Mastiff verharrte in der Bewegung. Er überlegte. Sollte er trotzdem noch etwas Unterhaltung bekommen? Der Wächter drehte sich wortlos um und ging in Richtung der Gebäude. Damit drehte er dem unerbetenen Besuch seinen Rücken zu. Auf einer ärmellosen Stoffjacke grinste diesen ein weißer Totenschädel an. Blut floss ihm aus beiden Seiten des Mundes heraus. Ein goldener Kranz umgab das Bild.
Mit hängendem Kopf lief der Hund voraus. Aber immer wieder wandte er den Kopf zurück, um zu kontrollieren, was hinter ihm geschah. Das Gebäude schien ein Wohnhaus zu sein. An diesen trottete die Bestie aber vorbei. Der Weg führte ihn zwischen zwei engstehenden Gebäuden hindurch. Sie betraten einen Platz, der von den weiteren Bauwerken umrahmt wurde. Vor einer dickwandigen Holztüre blieb der Mastiff stehen, bis sein Herrchen ihm die Türe öffnete. Schwanzwedelnd verschwand er im Türspalt. Knoop und seine Begleiter traten herein, ohne zu fragen, ob man dies durfte. Sie standen mitten in einer Scheune. Laurenzo verblieb in der Nähe des Eingangs. Sicherheitshalber.
Das landwirtschaftliche Gebäude war mit allen Mitteln architektonischer Kunst ausgebaut worden. Man sah zwar die Balkenkonstruktion des Daches, aber das Energiesparen war bis hier vorgedrungen. Die Dachpfannen wurden von weiß gestrichenen Platten verdeckt. Es war anzunehmen, dass wenn eine Wärmedämmung des Dachs hier vorgenommen worden war, denn die Raumtemperatur war angenehm. Die Begutachtung der Raumeinrichtung blieb Knoop versperrt, denn eine Traube von Menschen verschloss ihm die Sicht.
„Was wollen die denn hier?“
„Nett, endlich mal Besuch.“
„Kalle, wann hast du zuletzt ´nen Bullen geklatscht?“
„Guck dir mal die paar Männekes an. Soll ich Euch die wegfurzen?“
Das waren nur die Wortfetzen, die Knoop verstand, als er die Inneneinrichtung in sich aufnahm. Vieles ging auch im Gemurmel der Menge unter. Manche Bemerkungen wurden mit Gelächter belohnt. Knoop wartete, bis sich Ruhe einstellte, aber das geschah nicht. Er hatte aber nicht vor, solange zu warten, bis den Spaßvögeln die Luft oder die Ideen ausgingen. Er klatschte in die Hände, was die Lautstärke im Raum etwas reduzierte. Er hielt seinen Dienstausweis in die Höhe und drehte ihn zu allen Seiten.
„Knoop, Kripo Duisburg. Wer ist hier der Chef?” Seine Stimme musste in der gesamten Scheune verstanden worden sein. Dennoch setzte der Chor der Spaßvögel erneut ein.
„Knopf, jetzt haben die schon Knöpfe bei der Kripo.“
„Knauf, ich kann dir dein Ärschchen polieren.“
„Kripo, was hat denn die Kripo hier verloren. Schmeiß die raus“
„Guck mal, der Tapferste steht an der Türe Schmiere.“
Jede der Äußerungen wurde von einem Lachkonzert begleitet. Man schlug sich derb dabei auf die Schultern. Einige schlugen sich aus Spaß vor die Brust, andere schoben die kurzen Arme ihrer T-Shirts noch weiter nach oben. Knoop sah in eine Parade von Tattoos. Er begriff, hier ging es um eine Machtprobe. Die Versammlung hatte keinen Respekt vor den Besuchern. Sein erster Gedanke war, lieber an einem anderen Ort zu sein. Aber dazu war es zu spät. Wenn er jetzt Unsicherheiten zeigte, dann ging die Sache bestimmt nicht angenehm aus. Je frecher er auftrat, um so besser, schien es ihm. Das B, welches dem A folgen musste, war die einzige Alternative, die er im Moment sah. Er wartete, bis jemand aus der ersten Reihe den Mund bewegte. Seinem Gesichtsausdruck zu folgen, schien er nicht der Intelligenteste zu sein. Das schien ihm der Richtige zu sein. Knoop ging auf ihn zu.
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