Zuerst stieß ich sämtliche Fenster des Lesesaals weit auf und ging dann in die geheime Bibliothek. Sie hatte mir früher schon wertvolle Dienste geleistet. Der Haken: Als Vorableistung musste eine präzise Frage gestellt werden. Hilflos stand ich minutenlang vor den groben Holzregalen. Genauso, als würde ich erwarten, dass die Bücher wie von Zauberhand selbst meine Bedürfnisse errieten und sich aufgeschlagen auf dem Lesepult präsentierten. Schließlich machte ich resigniert auf den Fersen kehrt, setzte mich in den Lesesaal und trank Tee. „Traumhaft, diese Stille.“ Winzige Rädchen begannen sich in meinem Gehirn zu drehen. „Die Traumbotschaften!“ Oft hatten sie mir den richtigen Weg gewiesen. Warum nur waren solche Botschaften versiegt? „Weil du zur blinden Nachteule mutiert bist?“, schlug mein Alter Ego vor. „Mag sein – trotzdem nicht wirklich überzeugend.“
Pflichtschuldigst kehrte ich an den Strand und ins Zelt zurück. Die wartende Runde warf mir mehr oder weniger pikierte Blicke zu.
Ihre miese Stimmungslage ignorierend, verkündete ich: „Zuvorderst benötige ich Zeit, selbst wenn das eine Woche oder einen Monat beanspruchen sollte.“
„ Lilia, keine Alleingänge!“, forderte Alexis sichtlich alarmiert.
„ Zwar habe ich nichts dergleichen vor, aber du bekommst kein Versprechen.“
Mylord konnte oder wollte die sein Gesicht verzerrende Ohnmacht kaum verbergen. Am liebsten hätte er uns beide auf der Stelle mit magischen Fußfesseln untrennbar aneinander gekettet.
Ahnungslos holte ich zum nächsten Schlag gegen sein Herz aus, indem ich von Alexis die Erfüllung meines dringendsten Wunsches einforderte. „Katja braucht dich.“
Elin wiederum schien zu ahnen, dass ihre und meine Aufgaben uns alsbald auf getrennte Wege führen würden. „Ich werde in den Nächten ab sofort mit Alexis in Berlin jagen.“
„ Elin, nehmt zuvorderst die dämonischen Einpeitscher ins Visier. Rechnet jederzeit mit weiteren Fallen.“ Und nur für sie vernehmbar bat ich: „Bitte beschütze Alexis.“
Die Elbe gab ihr feierliches Versprechen.
Aneel kontaktierte mich. „Welche Aufgabe ist für mich gedacht?“
„ Kundschafte möglichst unauffällig die dämonischen Umtriebe in London aus. Berate dich zuvor mit Lyall und Fingal.“
Die Londoner blickten recht missmutig drein. Sämtliche abenteuerlichen Aktivitäten blieben ihnen versagt, nur weil sie keinen Seelensprung beherrschten. Nie zuvor in ihrem ausufernd langen Leben hatten sich die Zwei dermaßen unzulänglich menschlich gefühlt.
Dass sie genau dies auch in meinen Augen waren, machte die Situation heikel. Da polterte mein Alter Ego los: „Lilia van Luzien! Seit wann bemisst sich treue Freundschaft an Schwerthieben?“ Die krachende Ohrfeige für meine eigene Herzlosigkeit trieb mir Schamröte ins Gesicht. Verlegen senkte ich den Blick. Mit mehr Glück als Verstand spuckte mein Hinterkopf in die peinliche Stille hinein eine rettende Idee aus. Echt erleichtert sagte ich nun: „Für euch gibt es einen Leckerbissen. Ihr werdet Ahnenforschung betreiben, genauer gesagt, nach Halbelben fahnden. Knöpft euch vernünftigerweise zuvorderst den Stammbaum unserer werten Lords of Lightninghouse vor.“
Ihre Gesichter erstrahlten. Fingal rieb sich in gespannter Erwartung die Hände.
„ Ahnenforschung? Fantastisch!“, rief Lyall enthusiastisch.
Aber Elin übermittelte mir staubtrocken: „Was bist du doch wieder mal ausgebufft.“
„ Wie wäre es jetzt mit Lunch?“, fragte ich unschuldig.
Frühmorgens schnarrte sein Wecker Mylord gnadenlos aus den Federn. Mürrisch haute er auf die Austaste und lauschte rasch, ob ich versehentlich mit aufgewacht war. Da er absolut gar kein Geräusch hörte, drehte Alexis sich um – und sah eine unberührte Betthälfte. „Ich sollte Lilia nicht allein zurücklassen“, murmelte er. „Wenn sie nun tatsächlich heimlich nach London springt. Sie ist so seltsam, regelrecht verwirrt in letzter Zeit.“ Frustriert ging er ins Bad. „Ignoriere ich Berlin, geht es Lilia noch schlechter. Erfülle ich ihren Wunsch, drehe ich dort garantiert halb durch vor Sorge.“
Geduscht und mit Koffein vollgepumpt sprang Alexis nach Berlin, ohne eine Lösung für sein Dilemma gefunden zu haben.
Katja Rainer fand die Zusammenarbeit mit Mylord weniger toll, effektiv und unkompliziert. Dennoch tat ihr Herz einen dankbaren Extraschlag, als er kurz vor Beginn der Morgenrunde unverhofft in ihrem Büro auftauchte.
„Alexis! Du bist wieder auf den Beinen. Oh Mann, wir sind ohne dich völlig abgesoffen.“ Die Chefkommissarin umarmte ihn enthusiastisch.
„Entschuldige mein plötzliches Verschwinden, Katja. Jetzt stehe ich euch erst einmal zur Verfügung.“
„Erst einmal?“
„Es tut mir leid, nicht nur in Berlin überschlagen sich die Ereignisse.“
Katja registrierte, wie sich sein sonst so beherrschtes Gesicht schmerzhaft verzog. „Geht es Lil gut?“, fragte sie alarmiert.
Alexis schüttelte resigniert den Kopf, straffte sich schnell und lenkte ab: „Dann wollen wir in deiner Stadt mal aufräumen.“
Im Konferenzraum hoben sich müde Köpfe, als Katja mit Alexis im Gefolge eintrat. Manch einer der Kommissare kam kaum mehr zum Schlafen heim. Ein kleines, leer stehendes Büro, das in besseren Zeiten für Personalzuwachs eingeplant worden war, beherbergte neuerdings eine Pritsche für Notschlaf.
Die Leute waren am Ende ihrer Kräfte, das spürte Alexis überdeutlich. Darum überredete er Katja vor allem anderen, sie paarweise zwei Tage zu beurlauben. Allein diese Ankündigung genügte, allerletzte Energietropfen zu mobilisieren.
„Das hätte Lilia kaum besser hingekriegt“, raunte Björn zu John hinüber.
Die dramatischste Veränderung für das Team war, dass sich die Gewalt selbst veränderte. In den vergangenen Jahren bestand ihre Aufgabe weitestgehend darin, die von den Sternelben angekündigten Verbrechen und Verbrecher zu bekämpfen. Nun jedoch regierte meist die spontane Gewalt über Berlin, zerschlug brutal den Frieden der Stadtbewohner. Das frühere Ruhmesblatt des Morddezernats war mit Totenasche eingeschwärzt.
Die Dämonenhorden schwärmten Nacht für Nacht wahllos aus. „Tötet! Schafft Chaos!“, lautete der machtvolle Befehl des dunklen Fürsten an seine Sklaventreiber. Die heimtückische List ging in der von Elben unbewachten Stadt mühelos auf, sämtliche Krematorien glühten.
„Alexis. Alexis?“ Irritiert schaute Katja in seine völlig abwesenden Augen.
Die ellenlange, von den Sternelben übermittelte düstere Bilanz der letzten Nächte verblasste. Gleichzeitig versuchte weiterer Sphärengesang zu Alexis durchzudringen.
„Noch einen Moment, bitte.“
Die nun folgenden, scharfsinnigen Vermutungen der Sternelben verursachten Alexis schwer zu unterdrückende Übelkeit. Etliche Dämonen mussten sich demnach in den lichtlosen Kellern von Krankenhäusern eingenistet haben. Anders ließ sich das nächtliche Mordgeschehen auf den Krankenstationen kaum erklären.
Er schluckte mühsam und klärte seinen Blick. „Streicht sämtliche Krankenhaus-Fälle von eurer Liste. Ich werde mich sofort darum kümmern.“
„Wer soll dich begleiten?“
„Keiner. Ihr könntet da nichts ausrichten, Katja.“
Ohnmächtiges Gemurmel brach sich Bahn, denn sie wussten um unsere Magie und fühlten sich beim kleinsten Gedanken daran noch hilfloser.
Thomas spie laut aus, was fast jedem im Konferenzraum immer öfter durch den Kopf schoss: „Ich schmeiß den ganzen Scheiß hin.“
Der riesige Fahrstuhl glitt in den Untergrund des Westend-Krankenhauses. Verkleidet als Arzt, verbarg Alexis sein Elbenschwert unter einem langen weißen Kittel. Wenigstens musste er nicht in Begleitung einer Leiche zu den Bestien hinab. Deren Gestank mischte sich eindeutig unter den scharfen Geruch nach Desinfektionsmitteln.
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