„Zweifle niemals an meiner Liebe, auch wenn ich noch so scheißautoritär à la Joerdis herumkommandiere“, bat ich aus tiefstem Herzen.
Er fühlte sich ertappt. „Manchmal…“
„… bin ich ausschließlich Kriegerin, ich weiß.“
„Und ich bin egoistisch.“
„Ja, Mylord, aber wenn sich die Gelegenheit bietet, ist das gar nicht mal verkehrt.“
Lachend sprinteten wir gemeinsam unter die Dusche. Das führte zu mehr.
Als Pater Raimund in Santa Christiana die Sakristeitür zum Kirchenschiff öffnete, hielt er noch das Schreiben seiner Diözese in der Hand. Darin teilte ihm die Verwaltung lapidar mit, sämtliche verfügbaren Aushilfen seien bereits auf andere Berliner Gemeinden verteilt worden. Auch die ächzten unter einem stetig wachsenden Ansturm von Gläubigen.
Mit seinen vor Schlafmangel geröteten Augen zählte der Pater mechanisch die lange Warteschlange vor dem Beichtstuhl durch. Häusliche Gewalt und ausgerissene Kinder, unerklärliche Unfälle und Selbstmorde, davon bekam er nun täglich zu hören. Alte wie Junge starben vor der Zeit, immer öfter läuteten die Totenglocken. Eltern ließen nicht nur ihre Neugeborenen, sondern sich selbst vorneweg taufen. Aber niemand wollte mehr heiraten. Sicher hätte Lilia ihm den Grund für all das zu sagen vermocht. Doch sie war ebenso verschwunden wie das Licht. Vor kurzem noch nagte die gleißende Erscheinung neben dem Altar wie ein Geschwür an seinem Seelenheil. Jetzt, da sie fort war, fühlte er sich zum ersten Mal in seinem Leben gottverlassen. Mit hängenden Schultern drehte Raimund sich um, als ein Lichtstrahl in der Kirche aufblitzte. Sein Herz tat einen freudigen Hüpfer, aber seine Augen entlarvten das Licht sogleich als simplen Gruß der tiefstehenden Herbstsonne. „Mach dich nicht zum Narren“, brummte sein Verstand. Doch sein Herz fragte: „Ist dieses Haus noch ein Gotteshaus?“ Seine unendliche Traurigkeit passte, so stellte Raimund grimmig fest, zu der Beerdigung, die er am Nachmittag zelebrieren musste. Seine kleine Kirche würde wohl kaum genügend Platz für all die Trauernden bieten, die ihrem Bezirksbürgermeister die letzte Ehre erweisen wollten. „Nur 45 Jahre alt geworden“, murmelte Raimund. „Warum beging er Selbstmord?“ Mit Schaudern dachte er an die makabre Geschichte, die ihm sein Freund von der Kripo erzählt hatte:
Bürgermeister Paulski war morgens um kurz vor 8 Uhr wie immer das sechsstöckige Treppenhaus zu Fuß hinauf gestiegen. Der Pförtner hatte keinen Grund gesehen, sich über die mitgeführte Reisetasche zu wundern. Paulski bog aber nicht in sein Büro im 4. Stock ab, sondern stieg entschlossen bis auf das oberste Treppenpodest hoch oben in der Glaskuppel empor. Dort angelangt, holte er aus seiner Reisetasche ein Bungee-Sprungseil, klinkte das eine Ende an das schmiedeeiserne Geländer, legte das andere um seinen Hals. Leichtfüßig setzte der Bürgermeister über die Brüstung und stürzte sich mit einem leisen Schimmer von Hoffnung hinab, nun auf ewig den dämonischen Geistern in seinem Kopf zu entfliehen. Lange Sekunden federte sein Körper mitten in der Eingangshalle vor den Augen maßlos entsetzter, hilflos gestikulierender oder hysterisch schreiender Mitarbeiter auf und ab. Als sich endlich jemand traute, im entscheidenden Moment beherzt zuzugreifen, tat Paulskis Herz eben seinen letzten Schlag.
Von hauchenden Dämonen in den Selbstmord getrieben starb eines der wenigen, noch existierenden Mischwesen in Deutschland. Ohne jemals von seiner Bestimmung erfahren zu haben. Das würde Lyall später einmal bei seiner akribischen Ahnenforschung herausfinden.
Der Bentley mit dem Londoner Duo an Bord kam am späten Vormittag auf den letzten Drücker zu unserem verabredeten Treffen an die Klippen gerumpelt.
Dieser Umstand bestärkte mich in dem Willen, Lyall und Fingal tatsächlich ins Kloster St. Ninian zu stecken. Elin, die die umständliche Prozedur ebenfalls beobachtete, kam zu dem gleichen Urteil.
Obwohl landeinwärts hastende Regenwolken brav einen Bogen um den Strand flogen, trieb uns heftiger Wind feinen Sand in die Augen und zwischen die Zähne. Immerhin sorgte die Brise bei mir für eine gute Durchlüftung der funktionierenden Gehirnhälfte. Aneel errichtete ein komfortables Beduinenzelt, ausgelegt mit Teppichen. Elin steuerte einen Samowar bei und Alexis den unverzichtbaren Zitronenkuchen.
Aus mir noch unerklärlichem Grund saß der Klub anschließend ganz entspannt auf dicken Sitzkissen und lauschte dem zischenden Brodeln des Samowars. Dass die Sternelben zwischenzeitig fünf Nieten gezogen hatten, offenbarte sich erst durch Elins schlichte Frage.
„ Wer stimmt für die Unterweltexpedition?“
Alle hoben die Hand.
Sogleich verkündete Fingal: „Wir steuern unser Kartenmaterial bei.“
Dann rückte Aneel mit seiner verwegenen Idee heraus. „Vielleicht wirkt der Stein von Chara für euch beide, wenn Alexis dich trägt.“
„ Ich bin auf Dauer viel zu schwer, das Tragen würde seine Kräfte ebenfalls aufzehren“, warf ich ein.
„ Du wiegst kaum mehr als ein Paket Zucker – sofern du noch länger auf Frühstück verzichtest“, konterte Mylord.
Wir lachten herzhaft.
„ Habt ihr eure Untergrundpläne mitgebracht?“, wandte sich Alexis an die Londoner.
„ Was immer von Nutzen sein könnte“, bestätigte Fingal. Flugs rief er den dunkelbraunen, mit einem Lederriemen verschlossenen Koffer herbei. Auf dessen abgestoßenem Gestell lasteten mindestens 100 Jahre.
Auf dem Teppich entrollte er zusammen mit Lyall den ersten Plan. Wir Übrigen hockten uns dichtgedrängt hinter ihre Rücken, um alles sehen zu können.
Zunächst erklärte Lyall kurz für die Elben meinen gescheiterten ersten Versuch, einen alarmfreien Weg in die Kathedrale des Dämonfürsten zu finden. Danach fügte ich der Karte meine absolvierte Sternroute, den vermeintlichen Zugang durch eine Kirchentür, meinen Rückweg sowie den entdeckten Ausgang durch die Universität hinzu.
Alexis ergriff das Wort: „Ihr sagtet kürzlich in London, dass ihr mehrere Routen in die Kathedrale entdeckt habt.“
„ Ja“, bestätigte sein Cousin. Sogleich entrollte er einen weiteren Plan, versehen mit gelb, grün und braun markierten Strecken.
Bevor Fingal zu langatmigen Erklärungen anheben konnte, intervenierte ich: „Es spricht nichts gegen die Tour durch das Universitätsgebäude, aus dem ich entkam. Mir ist inzwischen klar, dass ein innerer Schutzring die Fürstengruft abschirmt. Stießen wir dennoch auf eine ungesicherte Stelle, dann wäre das vom Fürsten garantiert so beabsichtigt.“
„ Aber Lilia, da unten hausen inzwischen wieder hunderte Dämonen. Wenn ihr anklopft, seid ihr so gut wie tot!“, warf Lyall mit wachsender Erregung dazwischen.
Allgemeines Geistmurmeln brach sich Raum.
Wedelnd hob ich die Hand, um fortzufahren. „Uns bleiben zwei Möglichkeiten. Entweder wir finden eine Methode, die Klingel abzuschalten, oder wir scheuchen, locken, wie auch immer, die komplette Meute aus ihrer Unterwelt.“
Kaum geendet, schwoll das Geistgemurmel zu unerträglichem Durcheinander an.
Ich hingegen verließ einfach das Zelt. „Falsch, lediglich eine Möglichkeit bleibt, weil beide Bedingungen erfüllt sein müssen“, stellte ich für mich selbst klar.
Joerdis Seele gab nach langem Schweigen mal wieder ihren Senf dazu, sinngemäß: „Du bist verrückt.“
„ Vielen Dank, aber konstruktiv geht anders, meine Liebe.“
Plötzlich das Bild von St. Ninian vor Augen, verduftete ich vom Strand.
Muffiger Holzgeruch stand in dem alten Klostergemäuer. Wenigstens waren die Fledermäuse draußen geblieben.
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