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Der Wolkenbruch am Abend ging in der Nacht über in Dauerregen. Es wurde kalt und das Laub bildete einen glitschigen Belag auf dem Boden.
Wir brachten die Pferde in eine windgeschützte Lichtung zweihundert Schritt entfernt von der Straße, wo sie das Gras abweiden und an einem Bach saufen konnten. Haram kannte diesen Ort von früheren Fahrten, sonst hätten wir ihn nicht gefunden. Die beiden Wagen blieben näher am Straßenrand stehen, aber durch Bäume vor Entdeckung geschützt. Der Regen prasselte auf die Planen, unter denen wir es uns mit Hilfe einiger warmer Decken gemütlich machten.
Doch zwei Wachen mussten wir bei den Pferden lassen. In diesen Höhenlagen nahe des Flusses Sall begann das Gebiet der Wölfe und Bären. Im Sommer war es denen hier zu warm, aber jetzt, im Herbst, wanderten sie manchmal auf der Suche nach Nahrung bis in diese Regionen. Das jedenfalls behauptete Haram, der auf Nachfrage aber zugab, noch nie eines der Tiere hier in der Gegend gesehen zu haben. Gendra und Kar übernahmen die erste Wache. Ich war daher entschlossen, mich unter meinen Decken ein paar Stunden schlafen zu legen.
Doch Haram hatte andere Pläne. Er trank Wein zum Essen, was für ihn ungewöhnlich war, und schien den Alkohol nicht so gut zu vertragen wie wir anderen. Nachdem er die beiden Sturmlampen im Wagen gelöscht hatte, setzte er sich an die Öffnung und sah hinaus ins Freie. Ich konnte in der Dunkelheit kaum seine Silhouette sehen.
„In solchen Nächten“, begann er gerade so laut, dass wir ihn hören konnten, „sind sie unterwegs. Manchmal nutzen sie diese Straße, statt im Tal des Sall zu fahren. Dort ist mehr Verkehr.“
„Wer?“, fragte ich verärgert. Ich wollte schlafen! In drei Stunden würde ich die Wache bei den Pferden übernehmen müssen.
„Schwere Fuhrwerke, gezogen von schwarzen Pferden und begleitet von Bewaffneten, die sich unter dunklen Umhängen verbergen. Wer sich zu nahe heranwagt oder ihnen zufällig in die Quere kommt, wird getötet.“
„Rede nicht so viel, lege dich schlafen!“, fuhr Inda ihn an.
„Ach, lass mich! Jeder weiß davon, aber keiner redet darüber. Die Kutschen fahren zur Küste, wo schwarze Schiffe warten.“
Nun wusste ich, wovon er sprach. Es gab ein Gerücht, von dem ich zum ersten Mal in der Hafenstadt Kethal gehört hatte. Es besagte, dass die Kurrether die Ringlande ausraubten und ihre Beute in Form von Goldbarren außer Landes brachten. Auch in Kethal hatte es geheißen, jeder Beobachter würde erbarmungslos getötet. Was nicht stimmen konnte, sonst hätte niemand jemals so einen Transport beobachten und Geschichten darüber verbreiten können.
„Glaubst du das wirklich?“, fragte ich Haram. „Es hört sich an wie eine Lüge, die sich jemand ausgedacht hat, um die Bevölkerung aufzuwiegeln. Schließlich können die Kurrether nicht an allem Schuld haben, was in den Ringlanden nicht so ist, wie es sein könnte.“
„Der Wohlstand unseres Landes wird geraubt!“, rief er, senkte aber gleich wieder seine Stimme. „Deshalb kommen wir wirtschaftlich nicht voran, wie viel wir auch arbeiten.“
„Das ist nachweislich falsch“, argumentierte ich, obwohl ich eigentlich das Gespräch abbrechen wollte, um endlich zu schlafen. „Der Wohlstand nimmt zu, wenn auch langsam. Unsere Großeltern konnten sich den Chai aus Askajdar genauso wenig leisten wie den Tobacco aus dem Barbarenland. Viele Häuser hatten keine Fenster aus Glas, sondern aus dünnem Leder, wenn überhaupt.“
„Ja, ja, es war alles ganz schlimm! Das ist es, was man uns erzählt. Aber man sollte es nicht unbesehen glauben. Der Reichtum unseres Landes, nach all den Jahrhunderten ununterbrochenen Friedens, müsste sagenhaft sein! Es dürfte eigentlich keine Armen mehr geben, jeder sollte ein Haus aus Stein besitzen und immer genug zu Essen haben. Alle Straßen könnten gepflastert sein und die Tempel müssten glänzen vor Gold. Sag mir, Aron, wohin ist der Reichtum einer so langen Friedenszeit in einem Land mit einer so fleißigen Bevölkerung verschwunden?“
„Hat es ihn je gegeben?“, fragte ich zurück.
„Aus den Bergwerken im Ringgebirge kommt Jahr für Jahr mehr goldhaltiges Erz, als es Gold in den ganzen Ringlanden gibt“, behauptete er. „Auch die reißenden Flüsse, die aus den Höhenlagen kommend in den Donnan münden, führen Gold mit sich. Man kann es mit ein wenig Geschick auswaschen. Ganze Dörfer leben davon, und geben ihre Funde weiter an die große Goldschmelze am Sall.“
„Am Sall?“
„Ja. Man braucht viel Wasser, wenn man Erz schmilzt. Deshalb bringt man zum Beispiel auch das Eisen, das abgebaut wird, in die Provinz Krayhan. Dort, am Oberlauf des Donnan, kann man den ganzen Schmutz in den Strom leiten. Aber Golderz ist zu wertvoll für den weiten Transport. Das wird hier in der Provinz Malbraan verarbeitet.“
„Du weißt erstaunlich viel darüber“, sagte ich und war auf einmal wacher als bisher. War Haram wirklich nur ein einfacher Händler, der die Küfer in den Weinbauregionen belieferte?
„Früher habe ich versucht, auch damit mein Geld zu verdienen. Aber es ist nicht so einfach, Fuß zu fassen in dem Gewerbe.“
„Zu viel Konkurrenz?“
„Nein. Zu viele Kontrollen. Man ist keine Minute unbeobachtet. Es wird sogar überwacht, mit welchen Freunden man abends in der Taverne spricht. Jeder, mit dem man redet, könnte ein Spitzel sein.“
„Das ist in der Hauptstadt nicht viel anders. Man kann sich nur auf die Menschen verlassen, die man schon lange kennt, oder für die andere einen guten Leumund abgeben.“
„Auf dem Land war das früher nicht so. Aber jetzt haben die Kurrether so viele Zuträger, dass man sich fragt, ob es überhaupt noch anständige Leute gibt.“
Ich wollte etwas erwidern, aber Haram stieß einen Zischlaut aus. Einen Moment später spürte ich, wie er mich am Arm packte und mit sich zog zu der Öffnung in der Plane des Wagens.
„Was ist das?“, flüsterte er mir ins Ohr.
Ich konzentrierte mich und glaubte, den Hufschlag von Pferden und das Rumpeln von Rädern auf der gepflasterten Straße zu hören. Aber es war nicht eindeutig, der Regen auf der Plane über uns war zu laut. Kurz entschlossen schwang ich mich aus dem Wagen heraus.
Ich kannte die Richtung, in der sich die Straße befand, und erinnerte mich ungefähr daran, wo die Bäume standen. Mit ausgestreckten Armen ging ich Schritt für Schritt voran, bis ich den ersten Stamm ertastete. Hinter mir bemerkte ich einen Menschen. Ich drehte mich um, fasste nach ihm und hörte Harams Stimme.
„Ich will es auch sehen“, sagte er heiser.
Nebeneinander tasteten wir uns weiter voran, bis wir zwischen den Büschen am Straßenrand standen. Hier war es etwas heller als im Wald. Wir kamen gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie ein Fuhrwerk um die nächste Biegung verschwand. Zwei Reiter folgten ihm. Sie kamen von Norden, ihr Weg führte sie nach Südwesten, also die Strecke entlang, die wir gekommen waren.
Während ich noch überlegte, ob es sich lohnte, hinterher zu rennen, um mehr zu erkennen, hörte ich wieder Huftritte. Diesmal kamen sie auf uns zu. Dann das Rumpeln von Wagenrädern.
Zuerst erkannte ich zwei Reiter. Sie waren nur schwarze Schatten auf ihren Tieren, aber es war unverkennbar, dass sie sich nach allen Seiten umsahen. Zwei Dutzend Schritt hinter ihnen folgte das Fuhrwerk. Es schien schwer zu sein, das merkte ich daran, wie langsam es vorankam und wie laut und dumpf das Geräusch der Räder war. Links und rechts des Wagens kamen weitere Reiter daher, und dahinter noch zwei. Sechs Mann Geleitschutz für ein Fuhrwerk - die Fracht musste wertvoll sein.
Sollte ich mich aus dem Schutz des Gebüschs herauswagen? Ich könnte behaupten, ein Reisender zu sein, den der Regen überrascht hatte. Da ich unbewaffnet war, würde man mich vielleicht nicht als Gefahr einstufen und mit mir reden. Als ich mich dafür entschied, dieses Risiko einzugehen, spürte ich, wie Haram mich am Arm packte. Er schien zu ahnen, was ich vorhatte.
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