Ich reichte das Papier an Gendra weiter, die es in den Kamin warf. Dort flackerte ein Feuer, denn die Nächte in Andalach waren schon kalt. In einem teuren Gasthof wie diesem erwartete man nicht, dass sich die Gäste in Decken hüllten und in dicken Federbetten schliefen. Man heizte abends ein.
Ich holte unseren Gast unten ab und führte ihn in unser Zimmer. Er war ein kleiner, schlanker Mann von Ende dreißig, der wirkte, als sei er ein verschüchterter Schreiber im Kontor eines großen Handelshauses. Intelligent, aber ohne Ambitionen oder besondere Talente.
„Bevor Sie fragen“, begann er und lächelte kurz, „lassen Sie mich die Sache mit Romerans Stock erklären. Dass er sich so gerade hält wie sein Stock, ist ein Scherz, den ich mehrfach ihm gegenüber geäußert habe. Er ist stolz darauf, in seinem Alter noch so aufrecht dazustehen, auch wenn er das nicht zugeben mag.“
Ich nickte und bot Seibald ein Glas Wein an, das er aber ablehnte.
„Sie sind Magi“, sagte ich. „Welche Fähigkeiten haben Sie? Kampf, Verblendung, Magieabwehr oder sind Sie gar ein Seher?“
„Nichts von alledem“, antwortete er. „Fürst Borran hat mich nach Andalach geschickt, weil ich viele Arten von Magie ein wenig beherrsche. Vor allem jedoch, weil ich sie in anderen Menschen erspüren kann. Er hat den Verdacht, dass bei den Angriffen aus den Kaltlanden auch Magie mit im Spiel ist. Obwohl man bisher davon ausgegangen ist, dass primitive Völker wie die Kaltländer nicht in der Lage sind, magische Talente so weit zu entwickeln, dass sie praktisch anwendbar sind.“
„Und was haben Sie bisher herausgefunden?“, fragte ich.
„Magie spielt eine erhebliche Rolle, aber ich weiß nicht, welche“, antwortete er. „Es scheint eine größere Gefahr für die Ringlande zu bestehen, als wir bisher ahnen konnten.“
„Welche Art von Gefahr?“, hakte ich nach.
„Es könnte um unsere Existenz gehen. Denn die Kaltländer selber sind inzwischen besorgt über das, was geschieht.“
„Ich dachte, sie sind diejenigen, von denen die Angriffe ausgehen“, sagte ich. „Sie dringen von Norden her durch das Ringgebirge zu uns vor, zerstören und plündern. Dabei versuchen sie, so weit nach Süden zu gelangen, dass sie die Goldschmelze in Gandacker unter ihre Kontrolle bringen können.“
„So sieht es aus. Aber es gibt mindestens zwei Gruppierungen unter den Kaltländern. Die eine greift uns an und die zweite will Frieden. Ich bin unter anderem auch hier in Andalach, weil ich die Händler aushorche, die bisher Waren mit dem Norden ausgetauscht haben. Die wissen allerdings auch nicht viel über die Verhältnisse dort, vor allem nichts darüber, wer die Macht hat.“
Es war mir bisher nicht in den Sinn gekommen, dass das unkultivierte, kriegerische Volk nördlich des Ringgebirges nicht geeint sein könnte. Wir lebten in den Ringlanden und waren, bei allen Unterschieden zwischen den Provinzen, alle Ringländer. Ebenso, dachte ich, würden alle Kaltländer ein Volk bilden, das allerdings rückständig war und in einfachen Dörfern hauste.
„Es ist Ihre Aufgabe“, fuhr Nerran Seibald fort, „festzustellen, ob nur einige der Kriegsfürsten der Kaltländer die Trupps von Plünderern zu uns schicken. Oder wie auch immer man die Anführer bei denen nennt. Ich konnte nicht einmal in Erfahrung bringen, ob sie einen König haben oder eine ähnliche Instanz. Eine weitere Aufgabe für Sie ist es, herauszufinden, ob die Kaltländer ihr Magiesystem so weit entwickelt haben, dass sie es gegen uns einsetzen können.“
„Was meinen Sie damit?“
„Verfügen sie über Kampfmagier? Haben sie Seher, die Bewegungen des Gegners ahnen? Stellen sie magisch verstärkte Waffen her? Oder ...“ Nerran Seibald beugte sich vor und sagte leiser als bisher: „... verfügen Sie gar über eine Möglichkeit, den Schutz des Berges Zeuth vorübergehend außer Kraft zu setzen?“
Dieser Gedanke schockierte uns alle. Für einem Moment schwiegen wir.
Dann fragte ich: „Gibt es Hinweise darauf?“
„Die Kaltländer sind erfolgreicher, als es zu erwarten wäre. Es muss Gründe dafür geben. Finden Sie sie heraus.“
„Wie groß schätzen Sie die Gefahr für die Ringlande ein?“, fragte Serron, der sich bisher zurückgehalten hatte.
Nerran Seibald lächelte und antwortete: „Ich gebe Ihnen nicht meine Einschätzung, sondern diejenige der Kurrether. Der königliche Rat Geshkan ist von Dongarth nach Andalach geeilt und berät sich mit dem Fürsten. Und die Kurrether haben etwas getan, was einmalig sein dürfte: Sie haben eine Zauberin in die Ringlande geholt.“
„Eine was?“, fragten wir alle durcheinander.
„Eine Zauberin. Oder Hexe. Oder Magierin. Ich weiß nicht, wie unter ihresgleichen Menschen mit einer solchen Begabung heißen. Sie ist direkt nach ihrer Ankunft in Andalach in den Vorstand der Gilde der Erzgewinner und Minenbetreiber aufgenommen worden.“
„Rat Murpuna ist eine Magierin?“, rief ich laut.
„So ist es. Und sie ist vermutlich aus demselben Grund hier wie ich. Aber ich muss jetzt gehen. Versuchen Sie nicht, mir zu folgen oder zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal Kontakt mit mir aufzunehmen. Es wird Ihnen nicht gelingen und falls doch, wäre es für mich gefährlich. Ich wünsche Ihnen viel Glück.“
Wie gelähmt sah ich zu, wie er aufstand und mein Zimmer verließ. Vielleicht war ich sogar magisch gelähmt, denn es ging nicht nur mir so, sondern auch meinen drei Freunden. Als wir schließlich hinunter rannten in den Gastraum, um Nerran Seibald noch ein paar Fragen zu stellen, starrte man uns dort erstaunt an. Niemand konnte sich erinnern, ihn gesehen zu haben.
6
Vier Reiter in schwarzen Umhängen, die zwei Packpferde hinter sich führten, stachen aus dem frisch gefallenen Schnee sicherlich deutlich heraus. Wir waren meilenweit zu sehen. Deshalb mussten wir uns bei nächster Gelegenheit weiße Kleidung besorgen, und auch entsprechende Decken für die Pferde.
Seit wir Andalach verlassen hatten, waren drei Tage vergangen. Von der Hauptstadt der Provinz Malbraan aus waren wir in die Höhenlagen der Mittelgebirge geritten. Dort war der Winter bereits eingezogen. Aber wir würden ihn hoffentlich wieder hinter uns lassen, wenn es weiter nach Norden in tiefer gelegene Gebiete ging - zumindest vorübergehend.
Das Land bis hin zum Anstieg des Ringgebirges würde dann wieder flacher sein, und auch auf den Wald freuten wir uns. Er hielt den eisigen Wind ab, der jetzt durch alle Kleidungsschichten drang.
Aber noch befanden wir uns auf den kahlen Höhenzügen und folgten der Straße nach Nordosten. Das letzte Dorf lag zwei Tage zurück. Das war auch das letzte Mal gewesen, dass wir warm und sicher in Betten geschlafen hatten. Ich kannte die Verhältnisse im Winter in hohen Lagen aus meiner Kindheit und Jugend, aber meine drei Begleiter waren überrascht. So kalt hatten sie es sich nicht vorgestellt. Serron ließ sich nichts anmerken. Martie und Gendra jedoch, die früher als Soldaten und in den letzten Jahren als Söldner überall in den Ringlanden unterwegs gewesen waren, hatten es immer geschafft, kalten Wintern in nördlichen Gebieten zu entgehen. Nun wussten sie, warum das Sinn machte.
Als wir in der Ferne Rauchwolken sahen, hofften wir auf eine gut geheizte Unterkunft. Umso größer war unsere Enttäuschung, als wir einige niedergebrannte Hütten erreichten. Die Überreste mehrerer geschlachteter Schafe wiesen darauf hin, wer hier gelebt hatte. Die anderen Tiere der Herde waren anscheinend geflohen. Hinter einer noch halb stehenden Holzwand fanden wir fünf Leichen. Alle waren durch Schwerthiebe umgekommen. Man hatte sie teilweise ihrer Kleidung beraubt. Vielleicht sah es aber nur so aus, weil ihre Mörder alle Kleidungsstücke nach Wertsachen durchsucht hatten.
„Fünf Tote, alle nur bewaffnet mit Dolchen, einer mit Pfeil und Bogen“, fasste Serron zusammen. „Den Spuren nach mindestens acht Angreifer, die auf Pferden von Norden kamen. Sie haben das Fleisch der frisch geschlachteten Tiere mitgenommen. Das spricht dafür, dass sie wenig Proviant bei sich haben, also schon lange unterwegs sind.“
Читать дальше