Fünf von den Sechsen blickten uns finster an, aber einer lächelte, und das sorgte bei mir für eine Gänsehaut. Denn dieser sechste war kein anderer als der königliche Rat Geshkan. Seine Anwesenheit machte aus dieser Begegnung nicht nur eine offizielle politische Veranstaltung, sondern auch eine sehr persönliche. Bei unserer letzten Begegnung hatte ich ihm die Spitze meines Degens an die Kehle gesetzt. Warum ich das überlebt hatte, fragte ich mich seit dem immer wieder. Geshkan hatte mich anschließend ausgelacht, als wäre alles ein Riesenspaß für ihn gewesen. Er fühlte sich so überlegen, dass nicht einmal der drohende Tod ihn zu beeindrucken vermochte. Wenn es einen Kurrether gab, der eine tödliche Gefahr für mich und meine Freunde darstellte, dann er.
Ich überlegte, ob er wegen der Kämpfe hier im Norden der Ringlande war, oder wegen mir. Wobei es wohl eine Art von Größenwahn wäre, Letzteres anzunehmen.
Als Erster sprach der Mann, der kein Kurrether war.
„Sie sind also Aron von Reichenstein“, sagte er und sah mich scharf an. „Man hat Sie mir als intelligenten jungen Mann beschrieben, der allerdings zu Eigensinn neigt und sich nicht an Befehle hält. Warum sind Sie nach Andalach gekommen: auf Anweisung der Fürsten Borran oder aus eigenem Antrieb?“
Ich beschloss, ihn zu provozieren, in der Hoffnung, dass er verriet, was in ihm vorging. „Gibt es denn einen Grund, freiwillig in die Provinz Malbraan zu reisen?“, fragte ich mit spöttischem Tonfall.
Er ging nicht darauf ein, sondern zählte in vollem Ernst auf: „Die Landschaft, das Wetter, unsere schönen Städte und, nicht zu vergessen, die Möglichkeit, sich Geld als Söldner zu verdienen. Nie war Malbraan so beliebt. Von Norden und Süden strömen die Menschen zu uns.“
„Und alle sind willkommen?“, wollte ich wissen. Denn er spielte natürlich auf die Kaltländer an, die in seine Provinz eindrangen, und die Kämpfer, die er ihnen entgegen schickte.
„Warum nicht? Manche sind uns so wert als Gäste, dass wir sie nicht mehr weglassen. Wir begraben sie in unserer Erde. Was übrigens auch jungen Männern von verarmtem Adel zustoßen kann, die zu neugierig und zu vorlaut sind.“
„Eigenschaften, die mir nicht zueigen sind, weshalb Sie mich nicht meinen können“, konterte ich. „Sie sprachen davon, dass man hier als Söldner Geld verdienen kann. Wie wir unterwegs gehört haben, sogar mehr, als man für das Begleiten von Fuhrwerken erhält. Ich nehme an, das kommt daher, dass die Aufgabe, für die man bezahlt wird, ungleich gefährlicher ist.“
„Wer seinen Beruf versteht, hat nichts zu befürchten“, sagte der Fürst und sah dann nach rechts. Rat Geshkan hatte sich vernehmlich geräuspert.
„Zweifellos gibt es viele gute Gründe, in den Norden der Ringlande zu reisen“, sagte Geshkan. „Welchen davon Herr von Reichenstein angibt, ist belanglos. Er ist hier und er wird mit seinen Begleitern weiterreisen. Wir sollten dies zu unserem Vorteil nutzen. Rat Parakh, schildern Sie die Situation. Kurz, bitte.“
Sein geschäftsmäßiger Tonfall überraschte mich so, dass ich schweigend weiter zuhörte.
Einer der anderen Kurrether begann: „Es gibt weit nördlich von Andalach einen Pass durch das Ringgebirge, der von Händlern genutzt wird. Der Warenaustausch mit den Kaltlanden ist nicht besonders umfangreich, aber einträglich. Beide Seiten profitieren davon, deshalb kam es an diesem Pass nie zu Problemen. Wenn die Kaltländer früher die Ringlande überfielen, so nutzten sie die Küstenregion im Westen. Dies hat sich geändert.“
„Fürst?“, wandte sich Geshkan nun nach links.
„Bewaffnete Trupps dringen in meine Provinz ein. Keiner davon ist groß genug, um unter den Einfluss des Berges Zeuth zu fallen. Trotzdem hilft uns dessen Magie, denn Kämpfer aus den Ringlanden sind dadurch immer stärker als Eindringlinge. Doch es sind so viele, dass sie zum Problem werden.“
„Welches Ziel verfolgen die Kaltländer mit dieser Strategie?“, fragte ich.
„Sie rauben Transporte aus, mit besonderer Vorliebe natürlich solche von Golderz und Goldbarren. Dabei dringen sie immer weiter nach Süden vor. Ihr Ziel scheint es zu sein, bis nach Gandacker zu gelangen, wo die größte Goldschmelze steht. Ob sie die Schmelze selbst angreifen wollen oder es nur auf die Barren abgesehen haben, die dort hergestellt werden, wissen wir nicht.“
„Sie glauben also nicht an einen Eroberungsfeldzug, mit dem die Kaltländer sich dauerhaft in den Ringlanden festsetzen wollen?“, fragte ich.
Malbraan lachte hart. „Niemand kann uns dauerhaft besiegen, solange der Berg Zeuth uns beisteht. Nein, sie wollen Beute machen - und zwar vor allem Gold.“
Serron warf ein: „Es genügt also, die Goldtransporte besser zu sichern, und die Kaltländer gehen leer aus. Ich verstehe das Problem nicht.“
Rat Geshkan antwortete anstelle des Fürsten: „Dem kann ich abhelfen, denn es gibt mehrere Probleme, die für den Außenstehenden nicht sofort zu erkennen sind.“ Er hob die Hand und zählte mit den Fingern, während er weitersprach. „Erstens, die häufigen Überfälle auf die Minen stören die Arbeit dort. Bald werden die ersten Minenbetreiber ihre Betriebe schließen, weil die Bergleute sich weigern, unter dieser Bedrohung weiterzuarbeiten. Wir haben nicht genügend Truppen, um alle Minen ständig zu schützen. Zweitens, sollten die Kaltländer bis zur Goldschmelze gelangen, ist der Nachschub für die Münze in Dongarth gefährdet, das Wirtschaftssystem der Ringlande könnte in Gefahr geraten. Drittens, was wollen die Kaltländer mit so viel Gold? Sein Besitz verschafft Macht und Einfluss, aber wen wollen sie beeinflussen, was wollen sie mit diesem Reichtum anfangen? Viertens, die Bevölkerung ist verunsichert, die Versorgung leidet in den nördlichen Städten und Dörfern. Fünftens - aber ich will Sie nicht langweilen. Ich nehme an, Sie verstehen, dass es sich nicht nur um ein Ärgernis handelt, wenn die Plünderer aus den Kaltlanden hier so massiv auftreten.“
Ich nickte, dachte dabei aber an einen Punkt, den er nicht erwähnt hatte: Wenn es stimmte, dass die Kurrether große Mengen Gold heimlich aus den Ringlanden fortschafften, dann störten die Kaltländer dabei. Der Nachschub an Gold könnte stocken und die Transporte selbst könnten abgefangen werden, wenn die Plünderer so weit in den Süden vordrangen.
„An den Durchbrüchen der großen Ströme Donnan im Norden und Azondan im Süden durch das Ringgebirge stehen Festungen, die das Eindringen von Feinden verhindern“, sagte ich. „Vielleicht sollte man die Königin-Witwe bitten, den Bau einer Festung an der Passstraße nördlich von hier in Auftrag zu geben.“
Fürst Malbraan rümpfte die Nase über diesen Vorschlag. Denn der bedeutete, dass ihm die Macht über diesen Handelsweg in die Kaltlande genommen wurde - und damit womöglich auch ein Teil des Einkommens, das seine Provinz daraus bezog.
„Ein Vorschlag, der uns kurzfristig nicht hilft“, sagte er ablehnend. „Der Bau einer Festung dauert Jahre. Wir benötigen eine Lösung noch diesen Herbst oder spätestens im Winter.“
„Warum schließt niemand den Pass?“, fragte ich weiter. „Ich stelle ihn mir als eine Straße vor, die sich in Tälern und Einschnitten durch das Gebirge windet. Es sollte nicht allzu schwer sein, diesen Weg zu blockieren.“
„Man hat es versucht. Militärisch ist er nicht zu halten. Wir hoffen jetzt auf einen frühen, harten Winter. Der Pass ist zwar auch dann noch begehbar, aber es wird schwieriger. Die Natur könnte uns helfen, ihn zumindest für einige Monat unpassierbar zu machen.“ Fürst Malbraan deutete auf einen weiteren Kurrether. „Rat Murpuna hat dazu Vorschläge entwickelt.“
Ich sah den betreffenden Kurrether an - und hätte vor Überraschung beinahe laut „Oh!“ gerufen. Das Äußere glich völlig dem anderer Männer dieses Volkes: die breite Statur, die hohe Gestalt, die selbstbewusste Art sich zu geben, die kriegerisch anmutende Kleidung, das golden glänzende Schwert an der Seite. Aber nun sah ich, dass es sich um eine Frau handelte. Täuschte ich mich? Nach einem Moment völliger Verwirrung hörte ich die ersten Worte des Rats. Es war tatsächlich eine dunkle Frauenstimme. Das ging völlig gegen alles, was man von Kurrethern gewohnt war. Noch nie hatte ich eine Frau aus diesem Volk gesehen. Zumindest nicht bewusst. Die Unterschiede waren so minimal, dass ich vermutlich ein Dutzend von ihnen in einer Gruppe zusammenstehen hätte sehen können, ohne auf die Idee zu kommen, dass es keine Männer waren.
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