„Begraben wir sie?“, wollte Haram wissen.
„Unnötig“, befand ich. „Man wird sie suchen. Entdeckt man hier Gräber, wird man sie wieder ausgraben, um festzustellen, wer darin liegt. Also können wir uns diese Mühe sparen.“
Wir kamen überein, nicht nur diesen Wald schnellstmöglich zu verlassen, sondern auch Gandacker. Wenn man die Toten fand, konnte der Verdacht auf uns fallen.
Es war entschieden besser, dann schon viele Meilen von hier weg zu sein.
5
Etwas Idyllischeres als den Ort Vinheim am Sall hätte ich mir nicht ausmalen können. Es gab vermutlich Menschen, die sich die ganze Welt so wünschten, wie dieser Ort erschien. Die Häuser waren breit, zweistöckig und herbstlich geschmückt. In den sauberen Straßen und Gassen gingen bunt gekleidete Bürger ihrem Tagwerk nach, immer mit einem Lächeln im Gesicht und freundlich allen gegenüber.
Auf dem kleinen Marktplatz sah ich Stände, an denen lokale Spezialitäten verkauft wurden, und natürlich Wein in allen Geschmacksrichtungen. Getrocknete Weintrauben bot man ebenfalls feil, außerdem Schnäpse und Liköre. Was es nicht gab auf diesem Markt, waren - Taschendiebe.
In Dongarth war es eine Selbstverständlichkeit, dass Vertreter dieser Zunft zwischen den Ständen lungerten und nach Opfern Ausschau hielten. Da ich selbst eine gewisse Ausbildung in diesem Bereich erfahren hatte, besaß ich einen Blick dafür. Mir entgingen solche kleinen Gauner nirgends, egal wohin ich reiste. Aber hier entdeckte ich keinen einzigen.
Dafür gingen Wachleute in nicht unerheblicher Zahl durch die Menge. Sie trugen farbenprächtigere Uniformen, als ich sie bisher irgendwo gesehen hatte, waren aber nur mit Knütteln bewaffnet. Doch sie beobachteten das Treiben mit wachen Augen. Ich bemerkte, wie gleich mehrere unserer kleinen Gruppe mit Blicken folgten.
Natürlich war auch Vinheim nicht ohne Schattenseiten - in welcher Stadt gab es keine? Zu denen gehörten die Preise. Mit einem Einkommen, das in der Hauptstadt Dongarth ausreichend war für ein sorgenfreies Leben, wäre man hier ein Hungerleider. Lebensmittel kosteten das Dreifache, Zimmer in Gasthäusern das Doppelte der besten Häuser in der Hauptstadt. Das einzig Billige war der Wein, und selbst das galt nur für die einfachen Qualitäten.
Haram Gonn verabschiedete sich von uns, kaum dass wir angekommen waren. Er nahm Kontakt auf zu möglichen Abnehmern seiner Werkzeuge. Unterwegs hatte er beschlossen, nach Südosten weiterzufahren, sobald er seine Ware losgeworden war. Ihm gefiel nicht, was wir auf dem Weg hierher erlebt hatten. Er befürchtete, sein Name könnte in der ganzen Provinz Malbraan die Runde machen. Das wäre nicht nur gefährlich für ihn, sondern auch schlecht fürs Geschäft.
Dass unser Zusammenstoß mit den vier Angreifern nahe der Goldschmelze in Gandacker nicht unbemerkt geblieben war, stand inzwischen außer Zweifel. Kaum hatten wir an jedem Tag den Ort verlassen, holte uns der Kurrether Berthon ein, der von sechs Soldaten begleitet wurde. Er befragte uns ausführlich danach, wo wir gewesen waren. Durch scheinbar unverfängliche Fragen versuchte er uns dazu zu bringen, unseren Ausflug zum Fuhrpark und in den Wald zu gestehen. Als das nicht verfing, stieß er Drohungen aus und kündigte an, Fürst Malbraan zu informieren. Wir würden schon sehen, was wir davon hätten, nicht mit ihm zusammenzuarbeiten.
Auf dem Weg nach Vinheim waren wir durch mehrere Dörfer gekommen. Jemand hatte die Dorfvorsteher, Wachleute und sogar die Wirte der Tavernen vor uns gewarnt. Was man über uns erzählte, fanden wir nicht heraus. Aber wir fühlten uns nirgendwo willkommen. Was einerseits unsere Laune eintrübte, andererseits aber unsere Weiterreise beschleunigte. Außerdem wurde das Wetter zwar immer sonniger, dabei jedoch kälter. In den Planwagen war es auch bei Frost angenehm, aber die Nachtwachen wurden lästig. Deshalb fuhren wir oft noch nach Einbruch der Dunkelheit weiter.
In Vinheim selbst ließ man uns nicht spüren, ob man bereits von uns gehört hatte oder gar gewarnt worden war. Es waren vor allem die Preise, die mich und meine Freunde veranlassten, nur einen Tag in der Stadt zu verbringen. Wir hatten zwar dank des Goldes von Fürst Borran keine Geldprobleme, aber irgendwie war es uns allen zuwider, so freigiebig zu sein. Verschwendung widersprach unserer Natur.
Von Vinheim aus waren es nur noch dreißig Meilen bis in die Hauptstadt der Provinz, Andalach. Nachdem wir den Sall auf einer breiten Brücke überquert hatten, ritten wir auf der Straße entlang seines Nordufers weiter. Der Fluss war berüchtigt für seine Untiefen und Stromschnellen. Er wand sich wie eine Schlange durch das Tal, das er sich selbst geschaffen hatte. Wegen dieser Eigenschaften gab es keine Schifffahrt, alle Waren mussten auf Wagen transportiert werden. Aus diesem Grund herrschte auf der Straße fast so viel Verkehr wie in der Umgebung von Dongarth.
Das Wasser des Sall war klar und fischreich. Wir holten mit selbst gefertigten Angeln binnen weniger Minuten eine reichliche Mahlzeit heraus. Während wir die Fische brieten, saßen wir in der Sonne und ließen es uns gutgehen.
Alle fünf Meilen stießen wir auf eine aus Stein gebaute Brücke. Das war ein Luxus, den es am Donnan nicht gab, nicht einmal am Oberlauf, wo der Strom nicht besonders breit war.
Am frühen Nachmittag erreichten wir Andalach. Die Stadt konnte ich schon aus mehreren Meilen Entfernung sehen, denn sie lag am Hang eines langen Höhenzugs. Die Stadtmauern waren ähnlich eindrucksvoll wie diejenigen von Dongarth. Auch hier befanden sich einige Gebäude höher am Berghang als die übrigen. Besonders auffallend war eine Burg, die düster und abweisend wirkte. Das musste der Sitz des Fürsten von Malbraan sein. Links und rechts dieser Burg standen weitere Häuser, deren Funktion sich mir nicht sofort erschloss. Ein weiß getünchtes schätzte ich als Tempel ein, ein von Bäumen fast völlig verstecktes als Wohnsitz eines besonders reichen Händlers.
Vor der Stadt befand sich, wie auch in Dongarth, ein großer Platz, auf dem Fuhrwerke abgestellt werden konnten. Tavernen, Hufschmiede und Pferdeställe reihten sich aneinander. Was fehlte, waren die Häuser von Armen, von denen die Hauptstadt umgeben war wie von einem Gürtel.
Allerdings standen vor der Stadtmauer viele Zelte, und zwar solche, wie sie von Soldaten genutzt wurden, wenn sie in unwegsamem Gebiet kampierten. Das Besondere an diesen Zelten war, dass auf ihnen keinerlei Wappen oder sonstige Hinweise angebracht waren, die anzeigten, um wessen Truppen es sich handelte. Denn jeder Fürst hatte seine eigene kleine Streitmacht und das Königshaus eine größere. Auch wenn der Einfluss des Berges Zeuth keine großen Schlachten zuließ, so war Militär doch wichtig. Zum Einen, damit keiner der Fürsten auf den Gedanken kam, seinen Einflussbereich zu erweitern, wie es in früheren Jahrhunderten oft genug geschehen war. Zum Anderen, um das Verbrechen nicht überhandnehmen zu lassen. Eine Räuberbande von acht oder zehn gut bewaffneten Männern stellte für die Wachleute einer kleinen Stadt einen zu starken Gegner dar. In solchen Fällen wurden Soldaten zu Hilfe gerufen.
Auch auf der Straße vor der Stadt, auf der wir uns befanden, sahen wir viele Bewaffnete. Dabei handelte es sich eindeutig um Söldner. Manche waren auf dem Weg nach Andalach, andere kamen aus der Stadt heraus und ritten flussaufwärts, also nach Nordosten. Es gab keinen, der auf dem Weg nach Süden war und uns entgegen kam. Es war klar, dass im Norden viele Kämpfer gebraucht wurden.
Wegen der vielen Söldner ritten wir in dem Gefühl, nicht sonderlich aufzufallen. Man sah uns und unseren Pferden die lange Reise an, aber das galt für andere Männer und Frauen aus der kämpfenden Zunft ebenfalls.
Das Stadttor von Andalach stand weit offen, wie nicht anders zu erwarten an einem gewöhnlichen Tag. Einige Männer der Stadtwache stützten sich gelangweilt auf ihre Hellebarden. Trotzdem behielten sie die Menschen im Auge, die in die Stadt wollten. Immer mal wieder riefen sie jemanden aus der Menge heraus, um mit ihm zu sprechen. Aber in der Zeit, in der wir uns langsam näherten, durfte jeder nach einem kurzen Wortwechsel durch das Tor gehen.
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